Lübeck/Ahrensburg. Der Ahrensburger hat bereits mehrere Straftaten verübt. Verurteilt wird er nicht. Gutachterin bescheinigt schwere Geisteskrankheit.
Die Gerichtsgutachterin sieht in dem Mann „eine Gefahr für die Allgemeinheit“, der Staatsanwalt hält ihn für „gefährlich“ und „psychisch gestört“ – und selbst die Verteidigerin spricht von einem „unguten Bauchgefühl“: Trotz allem musste das Landgericht Lübeck am Donnerstag einen notorischen Dieb aus Ahrensburg laufen lassen. Der 34-Jährige, der laut Gutachten an einer paranoiden Schizophrenie leidet, durfte das Gerichtsgebäude nach sechsstündiger Verhandlung als freier Mann verlassen.
Das Dilemma der Justiz: Die Voraussetzungen für eine weitere Unterbringung des Mannes in einem psychiatrischen Krankenhaus sind nach Auffassung des Gerichts nicht gegeben. „Es besteht keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für Straftaten, durch die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt werden“, sagte die Vorsitzende Richterin Helga von Lukowicz. Das muss nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuches aber mit Sicherheit vorliegen, damit das Gericht eine solche Unterbringung anordnen darf.
Prozessbeteiligte angesicht Freilassung beunruhigt
Der Bundesgerichtshof habe in mehreren Urteilen deutlich gemacht, dass die Voraussetzungen sehr gründlich geprüft werden müssten. Und in diesem Fall seien sie nicht erfüllt – auch wenn alle Prozessbeteiligten angesichts der Freilassung „ein bisschen beunruhigt“ seien, sagte von Lukowicz.
Worum ging es? Norman T. (Name geändert) hatte im September vergangenen Jahres vier Tage lang für Unruhe und Angst in Ahrensburg gesorgt. Mehrmals nahm er sich Essen, Getränke und Tabakwaren aus Tankstellen oder Supermärkten mit, ohne zu bezahlen. Bei den Diebstählen trug er meistens – gut sichtbar – ein Messer bei sich. Als ihn die Mitarbeiterin einer Tankstelle aufhalten wollte, schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht. Die junge Frau erlitt eine Platzwunde an der Oberlippe, die genäht werden musste. Dem Mitarbeiter einer anderen Tankstelle drohte Norman T. mit den Worten „Ich kann Sie eliminieren“, als dieser ihn für einen Diebstahl zur Rechenschaft ziehen wollte. Der Wert seiner Beute war jedes Mal gering, betrug zwischen 4,30 und 16 Euro pro Fall. Mal steckte der 34-Jährige vier Pizzen ein, ein anderes Mal eine Schachtel Zigaretten und einen Energydrink. Die Taten soll er wegen seiner geistigen Erkrankung im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen haben, deshalb musste er sich nun im Sicherungsverfahren verantworten.
Wirre und aggressive Aussagen des Angeklagten
Vor dem Landgericht gibt Norman T. die Taten zu, stört sich aber an Kleinigkeiten der Antragsschrift. „Mir ist aufgefallen, dass da massive Fehler drin sind“, sagt der Ahrensburger. Er habe an dem einen Tag nicht fünf, sondern nur vier Pizzen gestohlen. Von der Justiz habe er mehr Genauigkeit erwartet. Zu den Diebstählen sagt er: „Ich wollte mir nur etwas zu essen und zu trinken holen. Ich sehe das als mein Recht an, auch wenn ich kein Geld dafür habe.“
Norman T. klingt wortgewandt. Er trägt einen schwarzen Pullover, darüber eine graue Jacke. Seine braunen Haare hat er nach hinten gegelt. Anfangs wirkt er relativ normal, doch im Verlauf der Verhandlung werden seine Aussagen immer wirrer und auch aggressiver. Im Mittelpunkt stehen Verschwörungstheorien. „Ich bin sehr wütend auf viele Leute in meinem Ort. Ich wurde fünf Jahre permanent ausspioniert und belästigt“, behauptet er. Bei seinen Taten im September habe er sich dagegen zur Wehr setzen wollen. Zu dem Vorfall mit der Tankstellen-Mitarbeiterin sagt er: „Ich finde es von ihr sehr dumm, jemanden, der bereit ist, so was zu tun, aufzuhalten.“ Es folgen wirre Geschichten über Krankheitserreger, mit denen er bewusst infiziert worden sei, über Computerangriffe und angebliche Schlaganfälle. „Ich habe aus Gewohnheit immer ein Messer bei mir gehabt, weil ich mich beobachtet fühlte“, sagt T.. Zum Beispiel im Supermarkt an der Kasse. „So etwas macht mich extrem wütend.“
Wegen der Erkrankung kein Unrechtsbewusstsein
Gutachterin Christine Heisterkamp bescheinigt dem Angeklagten eine paranoide Schizophrenie – also eine krankhafte seelische Störung. Wegen der Schwere der Erkrankung habe er bei den Taten kein Unrechtsbewusstsein gehabt. Norman T. wurde im September zunächst in die JVA Lübeck gebracht. Im November folgte aufgrund seines Gesundheitszustands eine Verlegung in die Psychiatrie nach Neustadt (Kreis Ostholstein). Behandlungen mit Medikamenten lehnte er allerdings ab. Auch vor Gericht machte der Ahrensburger deutlich, dass er sich nicht für krank hält und keine Behandlung will.
Sie könne momentan keine positive Zukunftsprognose für den Mann stellen, betont die Gutachterin. „Wir haben es mit einem gereizten, impulsiven, schwer kranken Mann zu tun. Ich möchte ihm nicht begegnen, wenn er mit einem Messer in der Hand herumläuft und gereizt ist.“ Heisterkamp befürchtet, dass er in Freiheit weitere Taten begehen werde, da seine Krankheit nicht geheilt sei. Sie könne aber nicht sagen, wie wahrscheinlich es ist, dass er dabei auch mal ein Messer einsetzt.
Keine Unterbringung in psychiatrischer Klinik
Genau diese letzte Aussage war der Grund, warum das Gericht den 34-Jährigen schließlich laufen ließ. „Wir haben Diebstähle, das sind nicht mal Straftaten mittlerer Schwere, und einen Faustschlag“, sagte Richterin Helga von Lukowicz. „Mehr nicht.“ Alles andere seien nur Spekulationen darüber, wie es mit ihm weitergehen könnte. „Die erforderliche Sicherheit haben wir aber nicht. Das hat zur Folge, dass wir ihn nicht in einer psychiatrischen Klinik unterbringen können.“
Für die Zeit, die er bereits im Gefängnis und in der Psychiatrie verbringen musste, wird der Ahrensburger entschädigt. Für die begangenen Diebstähle, den Faustschlag und die Bedrohungen könne er nicht bestraft werden, so Helga von Lukowicz weiter, weil er wegen seiner Erkrankung schuldunfähig gewesen sei.