Ahrensburg. Der Ammersbeker Carsten Witter war an Leukämie erkrankt. Er nahm den Kampf auf und gilt heute als geheilt.

Carsten Witter sitzt entspannt in einem Sessel, trinkt Milchcafé und lächelt. Er wirkt lebensfroh und tatkräftig. Vor zwei Jahren sah das ganz anders aus – da bekam er die Diagnose: akute Leukämie, Blutkrebs. „Ich war allein im Krankenhaus, als mir der Arzt das sagte“, erinnert sich der 48-Jährige. „Da gingen alle Schleusentore auf. Meine Welt brach zusammen.“ Während er weinte, dachte er daran, was er erlebt hatte und wie die Zukunft aussehen könnte. Schließlich hat Witter eine Frau und zwei kleine Kinder zu ernähren.

Der Arzt erklärte Witter, dass seine Form der Leukämie bei 90 Prozent der Patienten heilbar sei. „Da habe ich mich entschlossen, zu den 90 Prozent zu gehören. Alles andere war indiskutabel.“ Witter musste direkt im Krankenhaus bleiben. Er rief seine Frau an, teilte ihr am Telefon die schreckliche Dia­gnose mit. Am darauffolgenden Tag bekam er die erste Chemotherapie. Das war im Januar 2014. Was nun folgte war ein halbes Jahr im Krankenhaus, voller Spritzen, Infusionen und vor allem mit viel Zeit in Isolation. Das war das Schlimmste für den kontaktfreudigen Mann, der gerne redet und lacht.

Mit der Injektion der Wirkstoffe werden alle Blutzellen bekämpft

„Akute Leukämie kündigt sich nicht lange an, ist sofort heftig und muss heftig bekämpft werden“, sagt Witter, der selbst Rettungsassistent war. Beim Blutkrebs werden mit der Injektion der Wirkstoffe alle Blutzellen bekämpft – auch die gesunden. Deshalb kommt es nach einem Chemoblock zu einem sogenannten Zelltief. Der Körper hat keine Abwehrkräfte mehr, deshalb lag der Ammersbeker in Isolation. „Wer mich besuchen wollte, musste diese lustigen, grünen Gewänder anziehen“, sagt Witter. Kinder dürfen dort nicht hin. Seine Frau bekam Bronchitis, durfte ihren Mann auch nicht mehr besuchen. „Ich habe meine Kinder viele Wochen gar nicht gesehen und meine Frau durfte nur an der Glastür stehen und winken. Das war heftig.“

Dann kam eine weitere Katastrophe: Witter kollabierte; es hatte sich ein Blutgerinnsel im Kopf gebildet. Eine Woche lang lag der Krebskranke im Koma. „Man selbst schläft ja und kriegt nichts mit“, sagt Witter. „Aber für die Angehörigen ist das dramatisch.“ Jeden Tag kam seine Frau, während die Kinder im Kindergarten waren, und wachte an seinem Bett. Es war nicht klar, ob Carsten Witter aufwachen würde und wenn, mit welchen Einschränkungen.

Witter hatte Wortfindungsschwierigkeiten

Doch sein Kampfgeist schien ungebrochen. Er wachte auf, hatte aber Wortfindungsschwierigkeiten. Außerdem war seine linke Seite gelähmt. „Ich wurde wütend, wenn ich nach einem Glas Wasser verlangte und niemand reagierte. Dabei habe ich wohl „Zug“ oder „Wetter“ statt „Glas“ gesagt.“

Zum Glück legte sich diese Sprachbehinderung bald. Die Lähmung nahm ihn mehr mit als die Krebserkrankung selbst. Carsten Witter fiel in ein psychisches Tief. Aber er kämpfte weiter, er trainierte, bis er seinen Arm und sein Bein wieder gebrauchen konnte. „Mir wurde klar, dass es ein geringer Preis ist, leichte körperliche Einschränkungen zu haben, wenn ich stattdessen geistig fit bin.“

Beim Heimatbesuch schlief der Ammersbeker im Wohnzimmer

Wegen dieses Zwischenfalls passte die Neurochirurgin, die den zweiten Chemoblock überwachte, „wie eine Löwin auf ihr Baby“ auf ihren Patienten auf. Außer zwei Wochen Heimaturlaub und einer Woche Reha blieb Witter bis Juni im Krankenhaus. Doch die Heimaturlaube waren nicht so gut wie erhofft: „Man denkt, alles wird gut, aber es ist nichts gut“, sagt Witter. „Ich kam nicht allein von der Toilette hoch, geschweige denn die Treppe ins Schlafzimmer hinauf.“ So schlief er im Wohnzimmer, bekam von der Mutter eines Bekannten einen Rollator geliehen.

Immer wieder wurden ihm Blutpräparate verabreicht – mal Thrombozyten, also Blutplättchen, mal Erythrozyten, also rote Blutkörperchen, mal Leukozyten, also weiße Blutzellen – je nachdem, welche Zellen fehlten. „Es war ein komisches Gefühl, fremdes Blut zu bekommen“, räumt Witter ein. Er hat selbst jahrzehntelang, seit er 18 Jahre alt ist, Blut gespendet. „Ich kam selbst in die Verlegenheit, Blutpräparate anzunehmen.“

Carsten Witter will nicht bemitleidet werden und wieder arbeiten

Den dritten Chemoblock überstand Witter bis auf ein paar Fieberschübe gut. Er kam allerdings wieder in Isolation, weil seine Blutwerte sehr schlecht waren. Aber die Therapie hatte Erfolg: Der Ammersbeker wurde als geheilt entlassen. Mittlerweile ist er wieder zu Hause, war sogar schon zwei Tage arbeiten – als Lkw-Fahrer, wie vor seinem Kampf gegen den Krebs. Auch Motorrad fährt er ab und zu. Das ist manchmal noch schwierig, weil das linke Bein nach wie vor nicht so belastbar ist wie sein rechtes.

Hat sich sein Leben verändert? „Man bekommt ein anderes Denken und setzt andere Prioritäten“, sagt Witter. „Ich wundere mich oft, über was für Kleinigkeiten sich manche Leute aufregen. Es gibt größere Probleme, denke ich dann.“ Auch sei er mit weniger zufrieden als vorher. „Ich danke Gott dafür, dass ich erleben darf, wie meine Kinder groß werden.“ Das Toben fällt dem „Papi“ oft noch schwer. Dann sei er traurig, weil er „ein alter, dicker Mann“ sei. Doch das seien nur „kleine Tiefs“.

Ein langer Weg: Witter muss noch anderthalb Jahre Arztbesuche einplanen

Nervig seien die „Erhaltungschemos“, die er jetzt noch über sich ergehen lassen müsse. Einmal pro Monat bekommt er prophylaktisch eine Woche lang Spritzen und Tabletten oder Infusionen. Drei verschiedene Chemotherapien bekommt er im Wechsel. „Damit die Zellen nicht resistent werden.“ Noch anderthalb Jahre hat er vor sich. Das schränke schon ein, weil er sich nach einer Chemo oft schlapp wie nach einer Grippe fühle.

Aber der 48-Jährige blickt nach vorn. Er will wieder arbeiten „als was auch immer“ und das Leben genießen. Der Krebs ist längst nicht mehr Dauergesprächsthema. Und bemitleidet werden will der Lkw-Fahrer erst recht nicht. Deshalb weist er darauf hin: „Meine Frisur ist Überzeugung, kein Resultat der Chemo. Mit langen Haaren sehe ich aus wie Otto Waalkes.“