Reinbek. 70 Jahre alte Reinbekerin betreut Flüchtlinge, mit denen sie Tür an Tür wohnt. Die Rentnerin ist mehr als nur Gesprächspartner.
Auf der Küchenplatte stehen Gewürze, die später den Weg in eine leckere Sauce finden. Renas Tammo bereitet gerade die Kartoffeln vor, auch frisches Gemüse, Rindfleisch und einen Salatkopf hat der 28-Jährige mitgebracht. Inge Matthaei, 70, guckt ihm interessiert über die Schulter. Helfen muss sie nicht. Die Rentnerin wird bekocht, ziemlich oft sogar. Normalerweise bekommt Renas Tammo dabei Unterstützung von seinem Bruder Kaniwar, 29, wenn er Spezialitäten aus seinem Heimatland kredenzt. Der hilft heute jedoch einem Freund beim Wändestreichen. Die beiden syrischen Flüchtlinge leben in einem Hochhaus an der Straße Schmiedesberg in Reinbek Tür und Tür mit der Rentnerin. Sie werden von Matthaei betreut. Die alleinstehende Frau ist jedoch mehr als Rat- und Ideengeberin. Zwischen ihr und den Männern hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt.
Als Kind war die Reinbekerin selbst auf der Flucht
„Irgendwie war es Liebe auf den ersten Blick“, sagt Matthaei. Rein platonisch wohlgemerkt. Sie schätze die Freundlichkeit und Offenheit der beiden. „Und natürlich ihr gutes Essen.“ Kennengelernt haben sie einander vor fünf Monaten, als die beiden Syrer die 40 Quadratmeter große Ein-Zimmerwohnung bezogen. Ihre direkte Nachbarin war vom ersten Tag an für sie da. „Ich habe die Jungs gleich an die Hand genommen und sie den Bewohnern des Hauses vorgestellt.“ Inzwischen verbringen die drei viele Abende miteinander, reden über Alltägliches und sehr Privates. Mal in der Wohnung der Rentnerin, mal bei den Tammos, wo hauptsächlich gekocht wird. Auch Weihnachten und Silvester haben sie zusammen gefeiert. Mitunter sind auch Freunde der Brüder dabei.
Die Reinbekerin ist den Umgang mit jungen Menschen gewohnt, kümmert sich zum Beispiel um ihre beiden Neffen, die neun und 13 Jahre alt sind. Als Kind war sie in den 50er-Jahren selbst geflüchtet – mit ihren Eltern aus Thüringen in der damaligen DDR. Sie sagt: „Das war eine Nacht- und Nebelaktion. Ich wurde an die Hand genommen, und los ging es. Wir haben von jetzt auf gleich alles stehen und liegen gelassen.“ Die Flucht der beiden Syrer habe jedoch eine andere Qualität gehabt. „Das war schrecklich und muss erst einmal verarbeitet werden.“ Renas Tammo kam über die Türkei, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland. Dafür habe er einem Schlepper 11.000 Euro gezahlt. „Drei Tage war ich unter einem Lkw in einer Kiste eingeschweißt“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Sein Bruder wählte die Route über Kos in Griechenland, musste sogar 1000 Euro mehr hinlegen.
Die Syrer flüchteten aus Angst vor den IS-Terroristen und der Armee Assads
Die beiden syrischen Kurden stammen aus der Stadt Qamischli im Nordosten des Landes an der Grenze zur Türkei. Dort haben sie im Haushaltswaren- sowie im Kleidungsgeschäft der Familie gearbeitet. Geflohen seien sie aus Angst vor den IS-Terroristen, sagt Renas Tammo. „Und wegen Staatspräsident Assad.“ Bomben seiner Armee hätten einen Onkel und Cousin getötet.
Halt in ihrer neuen Umgebung gibt ihnen eine Frau, die mehr als 40 Jahre älter ist. Matthaei gehört keiner Flüchtlingshilfe-Initiative an. Sie unterstützt, wo es nötig ist. Zum Beispiel beim Lernen der deutschen Sprache. Oder sie unternimmt mit den Männern Ausflüge. Zuletzt waren sie im Miniatur-Wunderland. Vergangene Woche sei ein Hilferuf gekommen, als die Waschmaschine nicht funktionierte, sagt sie. „Renas und Kaniwar sind sehr respektvoll und behandeln Frauen so, wie es in Deutschland üblich ist – als Gleichberechtigte.“ Als die Geschehnisse aus der Silvesternacht in Köln an die Öffentlichkeit gelangten, hätten sich die beiden Syrer dafür sogar bei ihr entschuldigt.
Mit ihrer Art kommen die Brüder gut an
Mit der Verständigung gibt es keine Probleme. „Notfalls mache ich das mit Händen und Füßen“, sagt die Reinbekerin, die früher als Chefsekretärin in einem Großunternehmen gearbeitet hat und später Fortbildungen für Ärzte und Apotheker organisierte. Und gereist ist sie viel, vor allem in den Nahen Osten. Jordanien, Jemen, Syrien, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und gleich dreimal Oman – stets hat sich Matthaei auch abseits der Touristenströme bewegt. Sie sagt: „Ich habe mich dort immer wohl gefühlt und schnell Kontakt zu den Menschen aufgebaut.“ Mit ihrer Art kommt sie bei den Tammo-Brüdern gut an. „Irene ist sehr lieb. Ich freue mich, dass sie da ist. Wir haben ihr sehr viel zu verdanken“, sagt Renas Tammo, der mit seinem Bruder in Kürze an einem mehrmonatigen Integrationskursus in Hamburg teilnimmt.
Bereits am kommenden Dienstag ziehen die beiden um. Die Wohnung am Schmiedesberg hatte die Stadt Reinbek nur vorübergehend angemietet. Die Mieterin, eine Studentin, war über mehrere Monate in Thailand und kommt jetzt zurück.
Nachbarn spenden Haushaltsinventar für den Umzug
Die neue Bleibe der Syrer ist das Sachsenwaldhochhaus unweit des Reinbeker Täbyplatzes. Dort beziehen sie eine 58 Quadratmeter große Zwei-Zimmerwohnung. Matthaei hat für ihre Freunde Haushaltsinventar in der Nachbarschaft gesammelt, acht volle Kartons sind dabei zusammengekommen. Sie sagt: „Wir werden uns auch weiterhin regelmäßig sehen.“ Die Vorstellungstour hat sie fest eingeplant. In jenem Haus, in dem sie selbst einmal 18 Jahre gelebt hat.