Ammersbek. Der Ammersbeker Manfred Schmidt wird aus seiner Wohnung geworfen. Es ist eine Zeit voller Kälte – nicht nur, weil Winter ist.

Wer Manfred Schmidt kennenlernt, der ahnt nicht, dass dieser Mensch noch vor kurzer Zeit auf der Straße gelebt hat. Der 80-Jährige trägt Anzughose, Hemd und Krawatte. Die Schuhe sind geputzt, die Haare frisch gekämmt. Seinen Gästen hilft er aus dem Mantel, bietet ihnen etwas zu trinken an – in seinem Zimmer in der Flüchtlings- und Obdachlosenunterkunft, das er vor Kurzem bezogen hat.

Was Manfred Schmidt (Name von der Redaktion geändert) passiert ist, von dem sagen einige Menschen, dass es in Deutschland niemand erleben muss. Reale Beispiele, oft aus Großstädten, zeichnen ein anderes Bild. Doch das hier ist nicht Hamburg oder Berlin. Auch in kleinen Orten wie Ammersbek, in denen die Menschen noch fast zählbar sind, in denen man einander auf der Straße grüßt, gibt es Obdachlose. Manfred Schmidt war einer von ihnen.

Verlust seiner Frau stürzt Manfred Schmidt in eine Krise

Der 80-Jährige ist gelernter Elektriker, arbeitet sein Leben lang. Nach Jahrzehnten als selbstständiger Elektriker eröffnet er mit seiner Frau an der Küste ein Restaurant, das die Eheleute fünf Jahre führen. Mit seiner Frau hat der gebürtige Hamburger sechs Kinder. Das Geld ist nie üppig, aber es reicht zum Leben. Doch dann wird seine Frau schwer krank.

„Eines Tages brach sie zusammen“, sagt Manfred Schmidt. Die Diagnose lautet Schilddrüsenkrebs. Es folgt ein langer Leidensweg. Schmidt weicht seiner Frau nicht von der Seite, pflegt sie, bis sie vor acht Jahren stirbt. Seitdem ist die Welt für den Witwer eine andere. Der Verlust stürzt ihn in eine Krise. In den kommenden Jahren erkranken auch zwei seiner Söhne an Krebs.

Seine Rente reicht nicht zum Leben

Ein eigenes Haus hatte Manfred Schmidt nie. Er kommt vorübergehend bei seinem Sohn in Ammersbek unter. Als der wegzieht, muss auch sein Vater eine neue Bleibe suchen. Von seiner bescheidenen Rente, 500 Euro im Monat, kann sich heute niemand mehr ein Leben leisten. Er bekommt Grundsicherung im Alter, bezieht mit seinem Kater eine Wohnung in der Gemeinde. Knapp vier Jahre lebt er dort.

So sah das Zimmer aus, in das Manfred Schmidt hätte einziehen sollen.
So sah das Zimmer aus, in das Manfred Schmidt hätte einziehen sollen. © Sonja Borowski | Sonja Borowski

Doch die Depression infolge seines Traumas ist schwer. Vor einem Dreivierteljahr versucht er, sich das Leben zu nehmen. „Ich hatte alles vorbereitet“, sagt der 80-Jährige. Aber dann klingelt das Telefon. „Es war eine Sandkastenfreundin“, sagt er. Sie spürt, dass etwas nicht stimmt. Schließlich erzählt Schmidt ihr, was los ist. „Sie hat mit mir geschimpft wie ein Rohrspatz und darauf bestanden, dass ich zu ihr fahre.“ Ihr ist es zu verdanken, dass er noch lebt.

Wegen der Depression werden Alltagsaufgaben zu unüberwindbaren Hürden

Doch auch nach dem Suizidversuch sind die Trauer und der Schmerz natürlich, nicht weg. Die kleinsten Aufgaben des Alltags werden zu unüberwindbaren Hürden, eine davon: Post öffnen. Die Briefe stapeln sich, der Rentner ignoriert sie. Er hätte sie öffnen müssen, das weiß er, das ist seine Bringschuld, aber er konnte nicht.

In einem der Briefe muss gestanden haben, dass ihm seine Grundsicherung gestrichen wird, weil er die Nachweise nicht erbracht hat. Von der wird aber die Miete bezahlt. Ohne es zu merken, gerät Schmidt in massiven Mietrückstand. Niemand meldet sich telefonisch oder persönlich bei ihm.

Ihm wird schriftlich angekündigt, dass er aus seiner Wohnung raus muss, ein weiterer Brief, den er nicht öffnet. Deshalb erfährt er von der Räumung erst, als fremde Menschen vor seiner Tür stehen. Sie nehmen sein Hab und Gut mit, auch seinen Kater, und teilen ihm mit, dass er gehen muss. Sein Kater wird ohne sein Beisein eingeschläfert.

Mitten in der Weihnachtszeit beginnt für Manfred Schmidt ein Leben auf der Straße

Die Gemeinde Ammersbek bietet ihm an, ins Zimmer einer Obdachlosenunterkunft zu ziehen. „Als ich das gesehen habe, bin ich gegangen“, sagt Schmidt. Das Zimmer sei völlig verdreckt gewesen, die Küchenzeile schwarz, das Badezimmer verschimmelt.

„Ich hatte das Gefühl, das ist die Endstation“, sagt er. Er sagt nein zu der Unterkunft und setzt sich ins Auto, das ihm noch geblieben ist. Mitten in der Weihnachtszeit, in einem Winter mit Temperaturen bis zu minus acht Grad, beginnt für ihn ein Leben ohne Wohnung. Ein Leben auf der Straße.

Der Verein
Der Verein "Für dich Stormarn" hat den 80-Jährigen an die Hand genommen. © Juliane Minow

„Ich habe so gefroren“, sagt er. Kaum jemandem erzählt er von seiner Situation, nicht einmal all seinen Kindern. Er schämt sich. Ziellos irrt Schmidt umher. „Ein paar Tage war ich in Bad Segeberg, wo meine Frau beerdigt ist“, sagt er. Im Discounter kauft er Lebensmittel, die keiner Zubereitung bedürfen.

Manchmal isst er in günstigen Restaurants, dort geht er auch auf die Toilette. Er achtet darauf, dass es nie dasselbe ist, damit er nicht auffällt. Finanzielle Rücklagen hat Manfred Schmidt nicht, er lebt von Tag zu Tag am Existenzminimum.

Die Polizei wird auf den Ammersbeker aufmerksam

Schließlich wird die Polizei auf den Ammersbeker aufmerksam. Die wendet sich an den Verein „Für dich Stormarn“. Die zweite Vorsitzende Sonja Borowski findet Manfred Schmidt. „Von da an war ich nicht mehr allein“, sagt er. Borowski, ihr Mann und ihre Mitstreiter nehmen den 80-Jährigen an die Hand, versorgen ihn mit Nahrung und tun das, wozu er selbst keine Kraft hat: Sie nehmen Kontakt zur Gemeinde Ammersbek auf und kümmern sich um die bürokratischen Aufgaben. Sie erreichen, dass Manfred Schmidt wieder Grundsicherung erhält und ein anderes Zimmer in der Obdachlosenunterkunft beziehen kann.

Doch Sonja Borowski ist mit dem Umgang der Gemeinde mit Manfred Schmidt unzufrieden, prangert unmenschliches Verhalten an. „Es war kein einziger Anruf möglich, bevor er aus seiner Wohnung geworfen wurde“, sagt sie. Erst, als die Tierarztrechnung kam, habe sein Telefon geklingelt, das zuvor jahrelang still gestanden habe.

„Die Gemeinde ist zwar ihrer Pflicht nachgekommen, dem Obdachlosen nach der Zwangsräumung ein Zimmer anzubieten, doch damit hörte jegliche Unterstützung auf.“ Auch das Zimmer, in dem Schmidt jetzt wohnt, sei menschenunwürdig gewesen. „Wir haben mit sieben Leuten mehrere Stunden geputzt“, so Borowski. Auch Haushaltsartikel und Möbel hat der Verein besorgt.

Verein richtet offenen Brief an Fraktionen der Gemeinde Ammersbek

In einem offenen Brief an alle Fraktionen der Gemeinde Ammersbek fordert der Verein die Schaffung einer sozialpädagogischen Kraft, die sich um Obdachlose kümmert. Sie hätte im Fall von Manfred Schmidt einschreiten und eine Lösung finden können, durch die ihm wohl vieles erspart geblieben wäre. „Obdachlose gibt es nicht nur in Hamburg, sondern auch hier in Ammersbek“, sagt Borowski. Manfred Schmidt sei einer von zwei Wohnungslosen in der Gemeinde, von denen sie wisse.

Als er das Zimmer gesehen hat, in das er einziehen sollte, ist Manfred Schmidt gegangen. „Es hat sich nach Endstation angefühlt“, sagt er.
Als er das Zimmer gesehen hat, in das er einziehen sollte, ist Manfred Schmidt gegangen. „Es hat sich nach Endstation angefühlt“, sagt er. © Sonja Borowski

Dass es in der Gemeinde Ammersbek keine sozialpädagogische Kraft gibt, die Obdachlose unterstützt, bestätigt Bürgermeister Horst Ansén. „Um zu beurteilen, ob so eine Stelle sinnvoll wäre, müsste man noch einmal genauer hinschauen, was die Aufgaben wären“, so der Bürgermeister. Dass der Umgang mit Schmidt unmenschlich war, diesen Vorwurf weist Ansén zurück.

„Es haben über Jahre hinweg Versäumnisse stattgefunden. Es ist nicht die Aufgabe der Mitarbeitenden im Sozialamt, hinter jedem einzelnen Vorgang hinterher zu sein.“ Warum dem Wohnungslosen ein Zimmer in einem so schlechten Zustand angeboten wurde, müsse intern noch aufgearbeitet werden.

So oder so: Wie es für Manfred Schmidt weitergeht, ist ungewiss. Aktuell lebt er in dem Zimmer der Obdachlosenunterkunft. Seine Sachen werden in einem Lagerraum in Elmshorn gelagert, die Gemeinde drohe aktuell, diese zu vernichten, wenn nicht schnell ein günstigerer Raum gefunden werde.

„Ich bin froh, dass ich hier erst einmal im Trockenen bin und die Ehrenamtlichen sich um mich kümmern“, sagt Schmidt. Doch langfristig sehnt er sich nach einem echten Zuhause. „Ich würde mir eine kleine Wohnung wünschen, ein oder eineinhalb Zimmer. Und einen Kellerraum, in dem ich meine Sachen unterstellen kann.“