Betty Behr erinnert sich nach 50 Jahren an die verheerende Sturmflut 1962 im Alten Land, deren Opfer in der kommenden Woche gedacht wird.
Kohlenhusen. "Wenn ich an die Sturmflut 1962 denke, ist es, als sei es gestern gewesen", sagt Betty Behr aus Kohlenhusen in der Gemeinde Jork. Genau vor ihrem Haus rissen die Wassermassen ein riesiges Loch in den Deich und setzten den Obsthof der Familie Behr komplett unter Wasser.
"Der Deich brach so unerwartet schnell, dass wir glaubten, das sei unser Ende", beschreibt die heute 92-Jährige den Moment der Katastrophe. Acht Tage war absoluter Notstand, das Haus ragte wie eine Insel aus dem Wasser heraus, die Menschen versuchten zu retten, was möglich war, sie froren entsetzlich und sahen das Ausmaß der Verwüstung erst, als der Pegel wieder fiel.
"Dass es nun 50 Jahre zurück liegt, empfinde ich nicht, noch heute mag ich keinen Sturm", sagt die Altländerin. Als Anfang Januar das Sturmtief "Andrea" über dem Alten Land heulte und überall so viel Wasser stand, waren für Betty Behr alle Erinnerungen an die Sturmflutnacht vom 16. zum 17. Februar 1962 wieder da:
"Mein Mann kam um Mitternacht vom Kontrollgang zurück und sagte, Betty, der Deich läuft über", erinnert sich die Seniorin. Es war eine helle Vollmondnacht, der Wind peitschte Wasser über den Deich, der damals noch direkt vor dem Obsthof Behr verlief. "Ich beobachtete durch das Fenster, wie der tosende Orkan die Bäume auf dem Deich fast waagerecht bog. Dann brachen einzelne Bäume samt Wurzeln aus dem Deich. Wir sahen, wie der Damm zerbarst und die Elbfluten ein riesiges Loch in den Wall rissen", berichtet Betty Behr. Dunkel brodelnde Wassermassen mit hellen Schaumkämmen wälzten sich in den Vorgarten und breiteten sich rasant über das Gehöft aus. Die Wucht des Wassers hob die Stahlschienen der Zufahrtsbrücke zum Hof aus der Verankerung, riss die schweren Terrazzoplatten vom Zugangsbereich aus den Fundamenten, flutete Hof, Speicher und Diele. Im Keller splitterten Fensterscheiben, das Wasser rauschte durch alle Gewölbe, riss Vorräte mit, ebenso Feuerholz, Viehfutter, Arbeitsgeräte und Maschinen.
"Wir fragten uns, ob wir da je heil rauskommen", sagt Betty Behr. Aber Zeit zum Zaudern blieb den Leuten auf dem Apfelhof nicht. Sie retteten zuerst das Vieh aus der Diele. "Wir hatten drei Kühe und ein Jungrind, die brachten wir in die Küche." Man kann Betty Behr noch heute ansehen, dass es ihr als Altländerin, die den Hang zur Reinlichkeit mit der Muttermilch verinnerlicht bekam, ganz und gar nicht gefiel. "Die haben aus Angst meine Gardinen angefressen. Aber was sollten wir machen, wenn sie nicht elend ersaufen sollten?", berichtet die Obstbäuerin.
Etwa um zwei Meter stieg der Pegel auf dem Behrschen Hof. Nichts war mehr wie vorher. "Wir konnten alle nicht schwimmen" erzählt die alte Dame, die damals als 41-Jährige auch große Angst um ihren 13 Jahre alten Sohn hatte. Der Nordwest stürmte unablässig und drückte das Elbwasser von der Nordsee weiter Richtung Hamburg. Dazu kam die Angst vor einer weiteren Flutwelle, vor deren Ausmaß bereits gewarnt wurde. "Wir haben angstvoll die klaffenden Bruchstelle im Deich im Blick behalten, Wasser und Wetter genau beobachtet", so die alte Dame.
Am Morgen wurden die Menschen aus der Gefahrenzone evakuiert und mit Booten auf die Geest gebracht. Mitnehmen durften sie nichts, nur das was sie am Leib hatten. "Soldaten trugen uns teilweise auf dem Rücken bis ins Trockene. Wir bekamen in Hedendorf unser Notquartier." Aber zur Ruhe kamen der damals 48-jährige Heinrich Behr und seine Frau nicht. Alles in dieser Ungewissheit zurückzulassen war für sie ebenso schlimm, wie die Lebensgefahr am gefluteten Hof. Am nächsten Tag machten sich ihr Mann und der Hedendorfer Bauer Höft mit einem Kahn auf den Weg zum Behrschen Apfelhof, um das Vieh zu versorgen, das in der Küche vor Hunger brüllte und gemolken werden musste.
Nach zwei Tagen kehrten die Behrs zurück nach Kohlenhusen. Nach dem Regen und dem Orkan kam eisige Kälte. "Es war so bitter kalt", berichtet Betty Behr. "Unser Feuerholz war fortgetrieben, in den unteren Räumen gefror das Wasser, alles war kaputt und schmutzig und wir waren zwischen Verzweiflung und Lebenswillen hin- und hergerissen. Aber aufgeben wollten wir nicht."
Als das Wasser zurückging, wurde das Ausmaß der Verwüstung sichtbar. "Ich habe geweint, weil wir gar nicht wussten, wo wir anfangen sollten mit dem Aufräumen", sagt Betty Behr. Als das Wasser fort war, wurden auch die Helfer und Soldaten abgezogen und die Altländer mussten sich allein helfen. Das verstörte Vieh weigerte sich, die Haustreppen hinunter zu steigen. Die Männer hatten große Not, die Kühe zur Diele zurückzubringen. Im Keller waren Schlamm und Geröll, Glas und Unrat bis unter die Gewölbedecke gedrückt worden. In den Schränken und Regalen nichts als Schlick und Erde. Wochenlang wurde mit Schubkarren alles abtransportiert. Vom Hofpflaster lag kein Stein mehr wie zuvor und die Eisenbahnschienen, die einst die Zufahrtsbrücke trugen, ragten verbogen aus dem Schlamm. Der Ständerbalken von der "Grootdör" mit der Inschrift "Behr" wurde gut zwei Kilometer entfernt in Königreich wiedergefunden und konnte wieder eingesetzt werden.
Die Vorderseite des Hauses war so tief unterspült, dass die Männer aufrecht unter dem Fundament stehen konnten. Zum Glück hatte Betty Behrs Schwiegervater 1926 das Haus sehr solide umgebaut. Dass er nicht mit Zement gespart hatte, war wohl der Grund, dass das Haus noch stand.
"Das war wirklich eine schwere Zeit, und weil wir ein bisschen Erspartes hatten, bekamen wir auch kaum Hilfe", erinnert sich die Altländerin. Aber die Frau, die schon die schwere Nachkriegszeit gemeistert hatte, krempelte wie alle Familienmitglieder die Ärmel hoch und sie arbeiteten sich Schritt für Schritt zurück in die Normalität.
Etwa ein halbes Jahr dauerte der Notstand auf dem Hof an. Im Herbst war das meiste geschafft und die Obstbauern konnten mit der Ernte beginnen. Betty Behr hatte wieder alle Pflichten einer Altländer Obstbäuerin. Sie pflückte Äpfel, kochte und versorgte die Erntehelfer, organisierte das Hauswesen und das Familienleben.
"Nein, Fotos von den schlimmen Tagen gibt es nicht", sagt die Rentnerin, die gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter Hanna Behr in Kohlenhusen lebt. "Die Flut war ein so einschneidendes Erlebnis, das mein ganzes späteres Leben, Denken und Fühlen verändert hat. Wir waren am Ende einfach nur glücklich, dass wir heil davon gekommen sind."