Teil 1: Vor fast 50 Jahren, am frühen Morgen des 17. Februar 1962, bricht die bis dahin höchste Flutwelle über die Stadt herein – der Abendblatt-Bericht.
Teil 1: Vor fast 50 Jahren, am frühen Morgen des 17. Februar 1962, bricht die bis dahin höchste Flutwelle über die Stadt herein und überschwemmt ein Sechstel der Fläche. 315 Menschen sterben, Zehntausende werden obdachlos. Fünf Kinder ertrinken vor den Augen ihres Vaters. Ein Bootshändler rettet 54 Menschen aus den Wassermassen. Und Senator Helmut Schmidt übernimmt das Kommando...
Zu Beginn des Jahres 1962 hatte die fünfte Jahreszeit den Norden Deutschlands fest im Griff. Doch anders als im Rheinland schwappten hier nicht närrische Wellen der Karnevalsfreude, denn die fünfte Jahreszeit im Norden ist die Sturmsaison, und die hatte früher und heftiger begonnen als gewöhnlich. Es wehte beinahe ununterbrochen aus Nord-Nordwest. Orkanböen entwurzelten Bäume, deckten Hausdächer ab, und meterhohe Brecher donnerten gegen die Ufer. Doch die Menschen nahmen die Wetterkapriolen gelassen hin. "Es gibt kein schlechtes Wetter, höchstens die falsche Kleidung", sagten die Leute und schlugen beinahe trotzig den Mantelkragen hoch.
Knapp 17 Jahre nach Kriegsende gab es Wichtigeres zu tun, als übers Wetter zu schimpfen. Arbeitslosigkeit und Stellenabbau waren Fremdwörter, denn das Wirtschaftswunderland benötigte sogar viel mehr Arbeitskräfte, als vorhanden waren, und so hatte man mit der gezielten Anwerbung von Gastarbeitern begonnen. In den Großstädten waren ja noch längst nicht alle Spuren der Luftangriffe beseitigt. Während die Industriebetriebe bereits wieder unter Volldampf liefen, fehlte es vor allem an bezahlbarem Wohnraum, auch in Hamburg, wo durch die "Operation Gomorrha" im Sommer 1943 mehrere dicht besiedelte Stadtteile von den alliierten Bombergeschwadern dem Erdboden gleichgemacht worden waren.
Gleichzeitig waren mit dem Ende des Krieges auch viele Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die Stadt gekommen. Sie und die Ausgebombten: Sie alle mussten ja irgendwo hin. Und so hausten Anfang der "wilden 1960er-Jahre" auch 16 Jahre nach Kriegsende noch immer Tausende Familien in Behelfsheimen und Lauben, häufig sogar mit mehreren Generationen unter einem Dach. Die meisten von ihnen lebten im Süden der Stadt, am anderen Elbufer in Waltershof und auf der größten Fluss- und Binneninsel Europas, Wilhelmsburg. Genau dort sollten während der Sturmflut über Hamburg, die in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar über die Stadt hereinbrach, die meisten Opfer zu beklagen sein.
Am frühen Morgen des 17. Februar bot sich den zunächst 1500 Helfern (deren Zahl binnen weniger Stunden auf 26 000 stieg) ein Bild des Grauens. Die Deiche waren an 61 Stellen gebrochen (die Deichlücken waren insgesamt 2,5 Kilometer lang). Gut ein Sechstel des Hamburger Stadtgebiets waren überflutet, und ein Hamburger Polizeisenator namens Helmut Schmidt, der um 6.40 Uhr das damalige Polizeipräsidium am Karl-Muck-Platz betrat und mit beispiellosem Hauruck-Stil die Einsatzleitung an sich riss, befürchtete im ersten Moment "20.000 Tote und vielleicht sogar mehr".
Tatsächlich hockten zu diesem Zeitpunkt Tausende in Todesangst auf den Dächern ihrer Hütten im eiskalten Sturm; sie klammerten sich mit letzter Kraft an schwimmende Holzteile oder an die Äste der Bäume, auf die sie sich im letzten Moment hatten retten können - häufig schon seit Stunden. Die meisten von ihnen hatten all ihr Hab und Gut verloren; nicht wenige jedoch auch ihre Liebsten; ihre Partner, Kinder, Verwandten oder Freunde. Zehntausende waren in ihren Wohnungen und Häusern von der Außenwelt abgeschnitten. Strom, Wasser, Gas - nichts ging mehr, das Telefon - wenn vorhanden - sowieso nicht.
Wenn alle Dämme brechen...
+++ Das Hamburger Abendblatt vom 11. Februar 1962 +++
Was an diesem Tag noch in Hamburg passierte: Post schließt Abholstellen
Das Wetter am 11.2.1962
Die große Flut
Feuerwehr, DRK, Bundeswehr, Polizei und Technisches Hilfswerk hatten zwar schon den ganzen 16. Februar über in Alarmbereitschaft gestanden. Aber bei diesen 61 praktisch zeitgleichen Deichbrüchen allein auf Hamburger Stadtgebiet hatten die Helfer zunächst gar nicht gewusst, wo sie mit ihren Rettungsmaßnahmen anfangen sollten - und Funkgeräte waren Mangelware. So war niemand da, der einen genauen Überblick besaß und die Einsatzkräfte bündeln konnte - bis eben Helmut Schmidt das Zepter in die Hand nahm.
Dass am Ende dann "nur" 315 Opfer in Hamburg (und 339 in Deutschland insgesamt) zu beklagen waren, lag jedoch nicht nur an Helmut Schmidts außergewöhnlichen Organisations- und Führungsqualitäten, sondern auch an den vielen freiwilligen Helfern, die in Ermangelung von gezielten Einsatzbefehlen in den ersten Stunden nach der Katastrophe intuitiv das einzig Richtige taten und erst einmal einfach nur versuchten, so viele Betroffene wie möglich ins Trockene zu bringen - so wie der 36 Jahre alte Bootshändler Herbert Sührcke aus Wandsbek, der an jenem schicksalhaften Sonnabendmorgen keine Sekunde lang zögerte: Kaum hatte er im Transistorradio die Nachrichten gehört, alarmierte er seinen Gesellen Jörg Ackermann, lud ein brandneues Sportboot auf einen Trailer, und dann rasten beide Männer zur Kleingartenkolonie Hövel in Niedergeorgswerder, eine Gegend, die Sührcke gut kannte: "Schon wenn es da mal heftiger regnet, stehen die Lauben unter Wasser."
Sührcke (der im Jahr 2011 starb) sollte später erzählen, dass er keine Sekunde lang an etwas anderes gedacht hatte, als "die Leute da irgendwie rauszuholen". Sein Sohn Harry, 54, der seit mehr als 20 Jahren im australischen Perth lebt, erzählt, dass sein Vater jemand gewesen sei, der am Schicksal anderer stets Anteil genommen habe, ein besonders emphatischer Mensch eben. "Doch gleichzeitig hatte mein Vater auch keine Angst", sagt Harry Sührcke, "ich nehme an, das hing mit dem Krieg zusammen, den er als junger Jagdflieger nur mit viel Glück überlebt hatte - und in dem er unendlich viel Leid gesehen hatte. Er hatte sich aufgrund der Nachrichten beim Aufstehen einfach nur zusammengereimt, was in der Kleingartensiedlung passiert war - und war dann einfach losgefahren."
Dort, am Niedergeorgswerder Elbdeich, im östlichen Teil der Insel Wilhelmsburg, waren bereits Pioniere der Bundeswehr mit Schlauchbooten sowie das DRK im Einsatz, aber die freiwillige Hilfe des selbstlosen Bootshändlers wurde dankend angenommen: Überall in und auf den kleinen Häuschen warteten die unterkühlten, erschöpften Bewohner der Kleingartensiedlung auf ihre Rettung. Sührcke und Ackermann fuhren kreuz und quer über die Parzellen. Auf jeder ihrer Fahrten konnten sie neun Menschen an Bord nehmen. Nach der dritten Fahrt schlug ihr Boot an einem metallenen Zaunpfosten unter Wasser erstmals leck. Dieses Loch im Rumpf konnten die beiden abdichten, auch noch das zweite Leck, das sie sich während ihrer fünften Fahrt eingehandelt hatten, doch nach der sechsten Fahrt soff ihr Boot dann endgültig ab. Das Boot war hin, 15 000 Mark waren futsch. Doch 54 Menschen verdankten den beiden Männern ihr Leben. Für jeden geretteten Menschen hatte der Bootshändler 277 Mark bezahlt.
In diesen ersten Stunden, nachdem die bis dahin höchste Flutwelle aller Zeiten (bis 5,71 Meter über Normalnull) über Hamburg hereingebrochen war, wurden viele solcher ganz normalen Menschen wie Herbert Sührcke zu Helden, die danach unauffällig weiterlebten wie bisher. Manch einer von ihnen wunderte sich sogar, dass ihm vom Hamburger Senat eine Verdienstmedaille sowie ein Buch als Auszeichnung fürs persönliche Engagement verliehen wurden, das doch eigentlich völlig selbstverständlich war.
Auch Helmut Schmidt, der mit mehrstündiger, jedoch unfreiwilliger Verspätung, in einem heillosen Chaos die Koordination der Rettungs- und Versorgungsmaßnahmen an sich gerissen hatte, tat damals nach eigenen Worten "einfach nur das, was zu tun war". Er ersetzte das vorhandene blinde Gottvertrauen, die fatalen Fehleinschätzungen, die Desorganisation, das Kompetenzgerangel, die technischen Pannen sowie den totalen Zusammenbruch der Kommunikation durch unmissverständliche Befehle und Anweisungen, für die er im Falle eines Scheiterns die alleinige Verantwortung hätte tragen müssen.
Doch er scheiterte nicht. Sein entschlossenes Handeln diente ihm daher auch als Initialzündung für seine politische Karriere - zwölf Jahre später wurde Helmut Schmidt Bundeskanzler. Die Hamburger sind ihm noch immer unendlich dankbar für seine Courage und seine unorthodoxe Vorgehensweise über alle Parteigrenzen, bestehenden Gesetze und Verordnungen hinweg.
Aber auf der anderen Seite leben auch heute noch viele Menschen unter uns, die eine ganze andere Geschichte erzählen können. Menschen, die unmittelbare Zeugen wurden von Tod und von Leid in einer einzigen verhängnisvollen Nacht. Betrachten wir einmal eine Meldung auf der Titelseite des Hamburger Abendblatts vom 12. März 1962: Sie war knapp formuliert, doch vielleicht liest sie sich gerade wegen ihrer Sachlichkeit besonders erschütternd. Die Überschrift lautete: "Jetzt 301 Todesopfer". Darunter stand geschrieben: "Noch immer geben Wasser und zertrümmerte Häuser neue Opfer frei. Die letzten drei, die geborgen werden konnten, sind die 51-jährige Emma Holst aus Moorburg und Angelika und Brigitte Bennewitz, sieben und vier Jahre alt."
Hinter diesen dürren Zeilen verbarg sich eine der entsetzlichsten Familientragödien während der an Tragik wahrlich nicht armen Sturmflutkatastrophe. Denn mit Angelika und Brigitte wurden kurz vor Mitternacht des 16. Februar vor einem halben Jahrhundert auch der zehnjährige Rüdiger, der zwei Jahre jüngere Holger sowie die fünfjährige Christa Bennewitz in den Tod gerissen - vor den Augen ihres Vaters Ernst aus Waltershof, der hilflos zusehen musste, wie fünf seiner Kinder in einer gigantischen Flutwelle ertranken.
"Dieses Elend ist nicht in Worte zu fassen", sagt Birgit Pohle, geborene Bennewitz, die Tante der gestorbenen Kinder. Die heute 53-Jährige lebt in einer hellen und freundlichen Wohnung direkt am Hausdeich in Neuengamme. Wenn vor der Tür das Wasser steigt, krieche wieder die Angst durchs Innere, sagt sie.
An die Ereignisse dieser unbarmherzigen Stunden kann sich die Reinigungsfachfrau erinnern, als sei es gestern gewesen. Es sind ihre ersten Kindheitserinnerungen, die sie bis heute bewahrt hat. Birgit Pohle streichelt ihre Katze auf dem Sofa neben sich, blickt hinaus auf den Deich, hält kurz inne und schlägt dann ein Fotoalbum auf. Auf einigen Bildern sind kleine entzückende Mädchen zu sehen, in hübschen weißen Kleidern. Gestorben in jener Nacht, die Hamburg und die Hamburger veränderten.
Der Vergleich zu den Bombennächten des Krieges mag dabei aus drei Gründen hinken: Zum einen hatten die Fliegerangriffe insgesamt weit über 40 000 Tote gefordert. Zum anderen waren die Zerstörungen weitaus massiver. Und darüber hinaus war diese Katastrophe von Menschen verursacht worden. Dennoch besitzt die Sturmflut über Hamburg in der Erinnerung praktisch den gleichen Stellenwert - vermutlich, weil sie so überraschend kam zu einer Zeit, in der man gerade wieder damit angefangen hatte, das Leben - bescheiden oder nicht - zu genießen. Vielleicht aber auch, weil uns Menschen dadurch einmal mehr bewusst wurde, dass die Natur am Ende doch die Stärkere ist.
Birgit Pohle wirkt gefasst, als sie die Ereignisse von vor 50 Jahren schildert. Gemeinsam mit ihren zwei Geschwistern Karin und Roland und ihrer alleinerziehenden Mutter Lotti lebten sie damals auf einer Parzelle in Waltershof - auf wenigen Quadratmetern, in bescheidenen Verhältnissen. Die Kinder teilten sich eine Kammer; hinzu kamen ein winziges Wohnzimmer und ein Schlafraum für die Mutter. Die Toilette war draußen vor der Laubentür. Die gesamte Großfamilie war traditionell der Elbe verbunden. Birgit Pohles Mutter arbeitete in einer Fischfabrik, der Großvater auf einer Werft auf Finkenwerder. Umso bitterer, dass ebendieser Strom ihnen das Liebste nahm - und das gleich fünfmal ...
Direkt neben den Pohles wohnten in der Parzelle 259 des Kleingartenvereins Maakenwerder Grund die Verwandten: Tante Christel Bennewitz, Onkel Ernst, ein Schlosser, damals 32 Jahre alt, und ihre sieben Kinder. Es war ein turbulentes, quicklebendiges Familienleben, trotz der beengten Verhältnisse. Bis die große Flut kam.
Am späten Abend des 16. Februar 1962, als alle längst schliefen, begann es in ihrer Holzlaube plötzlich zu gluckern. Schmutzigbraunes Wasser drang durch die Dielen und stieg rasend schnell Zentimeter um Zentimeter höher. In der "Bild"-Zeitung vom 19. Februar 1962 gab Ernst Bennewitz zu Protokoll: "Meine Frau lud unseren Jüngsten in die Sportkarre und rannte mit ihm zur Schule. Ich nahm Brigitte und Heike in die Arme. Die vier Großen hielten sich in einer Kette an den Händen. Rüdiger griff meinen Arm."
Unaufhörlich stieg das Wasser. "Die Kinder wateten zuerst bis zum Bauch durch die Strömung", erinnerte sich Ernst Bennewitz, "mehrere Autos, vollgepackt mit Fernsehern, Bettzeug und Kisten fuhren an uns vorbei. Die Kinder schrien. Ich stellte mich den Autos in den Weg - aber keins hielt an." So weit, so schlecht. Es kam noch viel schlimmer ...
Christel und Ernst Bennewitz baten das Abendblatt mit Rücksicht auf diesen unvorstellbar grausamen Tag, keine weiteren Fragen zu stellen. Auch 50 Jahre später wüten die folgenden Minuten aus dem Februar 1962 in beider Seelen.
Doch Birgit Pohle, eine geborene Bennewitz, die als Kind das Drama miterlebte, kennt darüber hinaus aus den Schilderungen ihrer Mutter Lotti jedes Detail. "In dieser Nacht fuhr noch ein Dampfer rüber nach Finkenwerder, was unser Glück war", berichtet sie. "Leider war die Fähre überfüllt und hatte überhaupt keinen Platz mehr. Onkel Ernst hatte schließlich fünf seiner Kinder in einen Bollerwagen gesetzt und Heike auf den Arm genommen. Notgedrungen musste er am Anleger umkehren. 'Dann gehe ich eben über den Deich', sagte er, 'wir sehen uns gleich wieder.' Diese Worte meines Onkels höre ich noch heute."
Wenige Minuten später zerbarst dieser Deich unter der Wucht der Wassermassen. Ernst Bennewitz wurde von der Flut- und der Schlammlawine umgeworfen, doch es gelang ihm, die dreijährige Heike festzuhalten und sich auf festen Grund zu retten. Doch der Bollerwagen mit den fünf Geschwistern wurde ihm aus der Hand gerissen. Die Kinder hatten keine Chance. Seine Gefühle in diesem Moment konnte er später nicht ausdrücken, wohl aber seine Erinnerungen: "Als ich wieder hochkam, hatte ich nur noch Heike im Arm. Die fünf anderen Kinder waren fort. Sekunden später sah ich Rüdiger und Christa noch einmal auftauchen. Sie hielten sich umklammert. Dann spülte die Flut sie aus meinen Augen."
Wenig später traf Ernst Bennewitz seine Frau wieder. Er musste ihr sagen, was zu sagen war. Der Rest war Schweigen. Und Schmerz. Christel und Ernst Bennewitz leben heute in Billstedt - nach wie vor in unmittelbarer Elbnähe also. Nach dem Drama vom 16. Februar 1962 bekamen sie noch drei weitere Kinder. Denn das Leben für die Familie musste ja weitergehen, irgendwie.
Bis heute herrscht Verwunderung darüber, warum die schrecklichen Folgen dieser Naturkatastrophe gerade in einer modernen Großstadt wie Hamburg nicht verhindert werden konnten. Warum die Hamburger sozusagen sehenden Auges ins Unglück schlitterten.
Dabei hatte es in den 100 Jahren zuvor immer wieder Orkane und Sturmfluten, verbunden mit Deichbrüchen und Überschwemmungen, an den norddeutschen Küsten gegeben. Doch von einer "Jahrhundertflut", wie sie sich neun Jahre zuvor in den Niederlanden ereignet hatte, glaubte man sich gerade in Hamburg weit entfernt. Man hatte ja auch aus der "Mandrenke" im Nachbarland gelernt und inzwischen alles nur Erdenkliche getan. Die norddeutschen, die Hamburger Deiche waren bestimmt hoch genug - sie würden jedem Hochwasser trotzen.
Darüber hinaus fürchtete man damals in den deutschen Amtsstuben nichts so sehr wie einen falschen Alarm. Das war eine der wichtigsten Lehren gewesen, die man aus der holländischen Sturmflutkatastrophe gezogen hatte: Nach insgesamt sieben "voreiligen" Warnungen hatten die Bewohner der Provinzen Zeeland, Zuid-Holland und Noord-Braband dem achten, entscheidenden Alarm, keinen Glauben mehr geschenkt. Dann aber überspülte eine mächtige Springflut die Deiche: Mehr als 200.000 Hektar Land standen binnen weniger Stunden meterhoch unter Wasser - und 1835 Menschen kamen nicht mehr rechtzeitig aus ihren Häusern und Wohnungen heraus und ertranken.
Die erste Bürgerpflicht hieß daher: "Ruhe bewahren".
Man wollte die Bevölkerung auf keinen Fall verunsichern oder gar in Panik versetzen. Tatsächlich hatte sich das Hamburger Seewetteramt aber erstaunlich früh zur Herausgabe einer Orkanwarnung durchgerungen, und das benachbarte Deutsche Hydrographische Institut hatte ebenfalls rechtzeitig vor einer sehr schweren Sturmflut gewarnt. Darüber hinaus hatte auch der ausgeklügelte, mit deutscher Gründlichkeit entwickelte Behördenalarmplan gegriffen. Der hatte bloß einen Haken: Niemand von den alarmierten Beamten fühlte sich zuständig, die Bevölkerung zu warnen ...
Die Hamburger in den gefährdeten Gebieten wurden erstmals am 16. Februar um 20.33 Uhr über die Mittelwelle über die drohende Gefahr informiert; gut zwei Stunden später sogar auch übers Fernsehen, jedoch im typisch unaufgeregten Behördenton, der niemandem den tatsächlichen Ernst der Lage vermitteln konnte. Dem vorausgegangen waren langatmige, erbitterte Diskussionen mit der NDR-Sendeleitung, ob die beliebte Sendung "Familie Hesselbach" tatsächlich unterbrochen werden durfte. Schließlich hatte der Intendant ein Machtwort sprechen müssen - die Sturmflutwarnung wurde um 22.15 Uhr nach der letzten "Tagesschau" ausgestrahlt, als die meisten schon im Bett lagen. Und viele besaßen überhaupt keinen Fernseher.
Diejenigen, die noch immer keine Ahnung hatten, was da auf sie zurollte und nun spätabends plötzlich die Sirenen hörten, dachten natürlich zunächst an Feuer und nicht an Wasser. Vor allem diejenigen, die einen Blick nach draußen riskiert und den gewaltigen Feuerschein im Freihafen bemerkt hatten, der weithin sichtbar war: Kaum jemand wusste, dass in den größten Teilen der Stadt inzwischen der Strom ausgefallen war. Dadurch waren auch die Wasser- und Gaswerke lahmgelegt worden (soweit sie nicht ohnehin überflutet waren). Ohne Strom konnten die Pumpen jedoch weder Wasser noch Gas durch die Leitungen drücken. So musste im Gaswerk Grasbrook am Hafen das vorhandene Gas in die Luft abgeleitet und entzündet werden.
Auch die wenigen Polizisten, die durch die Kleingartensiedlungen Wilhelmsburgs von Tür zu Tür rannten, um die Bewohner aus den Betten zu holen und schließlich in ihrer Verzweiflung Warnschüsse abgaben, mussten feststellen, dass der tosende Sturm alle akustischen Signale übertönte ...
Begonnen hatte jedoch alles ein paar Tage früher, in der Nacht vom 11. auf den 12. Februar 1962. Da hatte der tagelange stramme Nordwestwind aufgefrischt, und von da an hatte es auch nicht mehr aufgehört zu wehen. Volle 96 Stunden lang war ein Sturmtief nach dem anderen über Deutschland hinweggezogen (und hatte dabei auch so manche kleinere Sturmflut ausgelöst). Aber das war alles nur ein Vorgeplänkel. Erst mit dem letzten Orkan, der sich vom 15. Februar an in elf Kilometer Höhe in der Troposphäre zusammenbraute und den die Meteorologen auf den sinnigen Namen "Vincinette" - die "Siegreiche" - tauften, sollte am Ende die Katastrophe eintreten, die in Hamburg praktisch niemand für möglich gehalten hatte.
Während sich die sturmfluterprobten Bewohner an den norddeutschen Küsten und entlang der Elbe auf die ewig neue Schlacht des Wassers gegen den Menschen mehr recht als schlecht vorbereiteten, ging das Leben in der Millionenstadt Hamburg weiter wie gehabt. Behördenintern war zwar höchste Wachsamkeit verordnet worden, aber letztendlich wähnte man die Bürger in Sicherheit. Die Nordsee war schließlich mehr als 100 Kilometer weit entfernt. Die Deiche waren 5,70 Meter hoch, die Deiche würden schon halten. Nicht einmal ein Katastrophenplan existierte für den Fall der Fälle, der jedoch bestimmt niemals eintreten würde ...
Doch wie wir heute, ein halbes Jahrhundert später, wissen, war dies ein fataler Irrtum. Der eigentlich fällige Alarm kam zu spät. Das Hamburger Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" schrieb in seiner Ausgabe vom 9. März: "Eine moderne Weltstadt, 750 Quadratkilometer groß und musterhaft organisiert, eine Festung aus Menschen, Beton und Energie zeigte sich gegen ein 100 Kilometer entferntes Randmeer des Ozeans so anfällig wie ein Pfahldorf der Primitiven."
Alle Folgen auf einen Blick
11.02. Die Nacht, in der Hamburg versank
13.02. Vorboten der Katastrophe
14.02. Alle Zeichen stehen auf Sturm
15.02. Der Alarm kommt zu spät
16.02. Die Flucht vor der Flut
17.02. Erste Hilfe nach dem Chaos
18.02. Eine Stadt trägt Trauer
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Hamburg wurde von 220 Millionen Kubikmeter Wasser überschwemmt. Diese Menge reicht beim derzeitigen Tagesverbrauch von 118 Litern pro Einwohner aus, um den gesamten Wasserbedarf der Stadt für mehr als drei Jahre zu sichern.