Westerland. Der Skandal von Kampen und die Reaktionen zeigen: Rechtes Denken ist keine Frage des Einkommens, und das Land strotzt vor Vorurteilen
Vielleicht hatte die Republik wirklich schon bessere Tage: 1988 texteten die Ärzte, damals noch eine ziemlich schräge Punkband, „Westerland“ – ein Lied, das zur Hymne auf die Insel wurde. „Es ist zwar etwas teurer / Dafür ist man unter sich / Und ich weiß jeder Zweite hier / Ist genauso blöd wie ich“, heißt es da. Vielleicht sollten sich alle das Lied noch einmal anhören: Denn in den vergangenen Tagen ist vieles über Sylt gesagt, geschrieben und getwittert worden, das ziemlich blöd war.
Zunächst waren da die Jung-Schnösel, die es offenbar lustig, mutig und passend finden, einen ziemlich dämlichen Gassenhauer rassistisch mit „Deutschland den Deutschen. Ausländer raus“ neu zu vertonen. So viel kann man gar nicht trinken, um im Suff etwas lustig zu finden, das man nüchtern niemals sagen würde. Wie auch die anderen bitteren Beispiele von Partys aus Mecklenburg-Vorpommern, von der Erlanger Bergkirchweih oder vom Schützenfest in Löningen, die vor allem eins zeigen: Alkohol enthemmt. Und offenbart das wahre Denken. Die Rechten sind überall.
Geliebte Insel, verhasstes Sylt – Sehnsuchtsort im Kreuzfeuer
Und doch ist es aufschlussreich, wie die Republik auf den Rassismus im Pony von Kampen reagiert. Zunächst einmal ist die Überraschung etwas schräg. Kann man ernsthaft von Rassismus in Deutschland überrascht sein? Bei jeder Umfrage kommen die Rechten derzeit auf mindestens 15 Prozent der Stimmen, im Osten sogar auf bis zu 30 Prozent. Machen AfDler keinen Urlaub? Wen verwundert da, dass es rassistische Knallchargen auch auf Sylt gibt?
Aber offenbar fasziniert die Mischung die Menschen. Sylt! Reichtum! Rassismus! Für manche ist das offenbar schon ein Trias des Bösen. Und so kann man ganz ungehemmt sein ganzes schlichtes Weltbild bestätigt wissen und seinen Hass auf die Hassenden ausleben. Es ist ja für eine gute Sache: Auf Twitter ist mal wieder der Teufel los. Einer würde gern die gesamte Insel mit Windrotoren zustellen, andere Sylt am liebsten gleich im Meer versenken. Da verliert für manche sogar der Klimawandel den Schrecken.
Die deutscheste aller Inseln lässt niemand kalt
Die deutscheste aller Inseln lässt niemand kalt. Manche lieben die Natur oder das Jet-Set-Leben dort, andere verachten all das, was sie Sylt zuschreiben. Bei der Insel sind Vorurteile nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Eine Nutzerin schreibt bei Twitter mit dem Bild von besoffenen Punks: „Eine antifaschistische Eingreiftruppe soll jetzt permanent auf Sylt stationiert werden.“ Haha.
Jürgen Trittin, in seiner Jugend radikaler Maoist, lobt diese Idee, der verwirrten Schnösel-Jugend Einhalt zu gebieten: „Ist angesichts der Umtriebe der Prosecco-Nazis von #Sylt überfällig“. Wir erinnern uns: Die Punks hinterließen in Westerland Verzweiflung, Verwüstung, Graffiti, Müll und Exkremente. Den Steuerzahler kostete der Spaß mindestens 200.000 Euro.
Die ganze Bonner Republik äußert Abscheu und Empörung
Aber egal. Denn auf Sylt und auf Schnöseln hackt ein jeder gern herum. Zumal das Outfit der Jung-Rechten und der Eintrittspreis von 150 Euro wie gemalt sind, um Vorurteile zu bedienen. Billiger ist der Beifall nicht zu bekommen. Keiner will zurückstehen: Christoph Ploß und Daniel Günther äußern Abscheu und Empörung, der CDU-Abgeordnete Dennis Radke schreibt: „Mit dem Geld von Mama und Papa auf Sylt auf die Kacke hauen, und wenn man sich schon so groß und mächtig fühlt, spuckt man einfach auf andere von obendrauf.“ Ein bisschen pöbeln gegen Pöbler.
Robert Habeck (Grüne) sagt: „Wer so rumpöbelt, ausgrenzt und faschistische Parolen schreit, greift an, was unser Land zusammenhält.“ Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) spricht von einer „Schande für Deutschland“, auch der Bundeskanzler Olaf Scholz („ekelhaft“) und der unvermeidliche Frank-Walter Steinmeier zeigen sich besorgt. Wann hatte ein Haufen Jungrechter das letzte Mal so viel Aufmerksamkeit bekommen? In Hoyerswerda? Oder in Rostock-Lichtenhagen? Leider nein. Damals wäre mehr Aufmerksamkeit bitter nötig gewesen.
Im Vergleich zum Pony wird alles zur Petitesse
Nun also Kampen? So widerlich das Lied war, so nötig wie die Strafverfolgung ist, wundert inzwischen die Dimension dieser Staatsaffäre im Pony. Zwischen wirren Worten und Taten wird nicht mehr unterschieden. Kein Thema war in den letzten Monaten so groß und so wichtig wie der entgleiste Partyauftritt einiger verzogenen Wohlstandskinder.
Es geht nicht darum, den Skandal kleinzureden. Sondern darum, die Maßstäbe nicht zu verlieren.
Wenn 2000 nicht integrierte Muslime mitten in Hamburg ein Kalifat in Deutschland fordern, gibt es pflichtschuldige Empörungsadressen, wenn Juden wieder Angst an deutschen Universitäten haben, stört das wenige. Der Krieg in der Ukraine, der Krieg in Gaza, die deutsche Deindustrialisierung, sie alle schrumpfen im Vergleich zum Pony zu Petitessen.
Die Politik ist nicht nur Treiber, sondern Getriebene
Die Politiker sind nicht nur Treiber dieser Entwicklung, sie sind Getriebene. Das Internet als Medium, die sozialen Netzwerke und die minütlich vermessenen Einschaltquoten auf den Web-Nachrichtenseiten blasen das Thema immer weiter auf. Was interessiert, muss noch größer gemacht werden. Die Schnösel von Sylt in allen Facetten, verfolgt bis ans Ende. Wenn ein ganzes Zelt in Löningen „Ausländer raus“ singt, interessiert es nur am Rande, der Rassismus der Reichen auf Sylt hingegen wird zur Topnachricht. Sogar die Tagesschau widmet mehr als zwei Minuten ihrer teuren Sendezeit dem Prosecco-Skandal.
Hier ist der Generalverdacht ausnahmsweise erlaubt. Warum?
Sylt ist die Projektionsfläche für Gut und Böse
Es muss an Sylt liegen. Die Insel ist deutscher Sehnsuchtsort, Hassliebe, Projektionsfläche für den Klassenkampf der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts. Jetzt kommen zwei Elemente des Verabscheuungswürdigen zusammen: Reichtum und Rassismus. Sylt, vor allem Kampen, gilt immer noch als der Ort der vermeintlich „Reichen und Schönen“, Treffpunkt der Schickeria und Marktplatz der Eitelkeiten. Hier hat Bundesfinanzminister Christian Lindner geheiratet, hier lebten und leben Großverleger, Vorstandsvorsitzende, Erfolgstrainer. Alles außergewöhnlich. Alles außer gewöhnlich.
Sylt steht für Dünen und Dekadenz, Brandung und Brioni, Meeresrauschen und Rausch. Und nun auch für Reet und Rassismus, Nackideis und Nazis. Selbst das letzte Paradies der Deutschen hat seinen Sündenfall. Die letzte Heimat deutscher Leichtigkeit ist schwer belastest.
Der Blick auf die Insel ist arg klischeehaft
Diese ganzen Zuschreibungen zeigen zugleich, wie klischeehaft der Blick auf die Insel ist. Sylt ist auf der einen Seite tatsächlich wahnsinnig deutsch – 98 Prozent der Urlauber sind Einheimische, der Rest wahrscheinlich Schweizer. In der Vergangenheit störte man sich nicht einmal an der Nazi-Vergangenheit eines Bürgermeisters, der bei der Niederschlagung des Warschauer Ghettos zum Kriegsverbrecher wurde.
Sylt ist zugleich anders als der Rest der Republik: Das Eiland liegt als Außenposten in der Nordsee, dem Festland entrückt. Es passt, dass oft das dänische Netz ins Telefon hineinfunkt. Sylt hat sich von der plumpen Deutschtümelei früh emanzipiert, wurde ein Liebling der Kreativen, der Dichter, Muse der Maler.
Sylt, das ist ein Eiland der großen Wellen und der großen Worte
Hier hat man sich in hitzeflirrenden Sommern südwärts geträumt. Ihre Strände heißen Abessinien, Samoa, Sansibar – und auch sonst ging es dort freizügig zu. An den Weststränden der Insel fielen die letzten Hosen, an den FKK-Stränden Abessinien oder Samoa beschleunigte sich die sexuelle Revolution der 60er-Jahre. Vom Mythos des heißen Strand- und Lotterlebens an „Buhne 16“ zehrt Kampen bis heute.
Sylt, das ist ein Eiland der großen Wellen und der großen Worte. Den Urlauber Thomas Mann hat die Nordsee tief erschüttert: „Nicht Glück oder Unglück, der Tiefgang des Lebens ist es, worauf es ankommt. An diesem erschütternden Meere habe ich tief gelebt.“ Sein Widersacher Gerhart Hauptmann schrieb über die Lister Wanderdünen: „Es ist hier wie auf den Gletschern eines Hochgebirges.“ Und Walter Jens ätzte treffend über Westerland: „Betonsilos am Meer, geballte Hässlichkeit über einer der scheußlichsten Straßen, Friedrichstraße, einer misslungenen Mischung aus St. Pauli und Baden-Baden.“
Sylt kennt viele Wahrheiten
Jeder Deutsche hatte und hat eine Meinung. Und jeder hat ein bisschen recht, denn Sylt kennt viele Wahrheiten. Keinen lässt die Insel kalt, hier sind die Dünen höher, die Wellen kräftiger, die Horizonte weiter. Hier sind aber auch die Schuhe schicker, die Autos dicker und die Austern teurer.
Sylt war auch das Streben der Deutschen, wieder wer zu sein: Anfang der 70er-Jahre galt Sylt nach Cannes und St. Tropez als bekanntestes Ferienziel in Europa. Das ist lange vorbei – abseits von Kampen herrscht viel deutsche Alltäglichkeit, ob auf dem Campingsplatz in Hörnum, beim Famila in Westerland oder dem Großraum-Gosch in Wenningstedt.
Die Insel ist mehr, als durchgeknallte Rich Kids erahnen lassen
Es gibt aber auch das andere Sylt: Die Lister Dünen, die Abgeschiedenheit im Archsum, die Weltferne und Gottesnähe von St. Severin. Sylt ist ein faszinierendes Kaleidoskop auf 99 Quadratkilometern. Die Insel bietet viel Raum, Frei-Raum, am menschenleeren Strand auf dem Ellenbogen, in verwunschenen Dünentälern, in der Weite der Wattseite, unter dem endlosen nördlichen Himmel.
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Hier findet jeder seinen Platz. Punks und Millionäre, Künstler und Spießer, Sylt ist Heimat für jeden Geldbeutel, für jedes Alter, für jede Einstellung. Seit Pfingsten weiß man – auch für abstruse.
Und doch: Diese Insel ist zu groß für Kleingeister.