Westerland. Ob Nepal, Afghanistan oder Italien: Sylt ist viefältiger als gedacht. Doch warum zieht es die Menschen gerade hierher?
Ob aus China, Gambia oder Brasilien: Sylt ist vieles, aber vor allem international. 113 Nationen sind es, die laut Ausländerbehörde Nordfriesland auf der Insel vertreten sind. Von den gut 20.000 Einwohnern besitzen 3227 und damit knapp jeder sechste eine ausländische Staatsbürgerschaft. Doch wer sind diese Personen und weshalb zieht es sie gerade nach Sylt?
Einer von ihnen ist Naqib Muradi. Der 27-jährige Afghane lebt seit 2015 auf der Insel und gehört damit zu den 106 afghanisch-stämmigen Bewohnern, die Sylt zählt. Er muss innehalten, wenn er anfängt davon zu erzählen, wie er vor sieben Jahren auf die Insel kam. Muradi trägt eine hellblaue Winterjacke mit Kunstfellkragen und holt erst einmal tief Luft. "Also ehrlich gesagt war es purer Zufall, dass ich ausgerechnet nach Sylt gekommen bin.“
Mehr als 100 Nationen: So vielfältig ist Sylt
Eigentlich war es ihm egal, wohin, sagt er. „Ich wäre auch nach Hamburg oder in eine andere Stadt gegangen. Hauptsache irgendwohin, wo ich in Ruhe leben und anderen Menschen mein Glück weitergeben kann", so Muradi.
Die Gleichgültigkeit mit der Muradi auf die Suche nach seiner neuen Heimat ging, lag wohl an dem Grund, weshalb der Afghane sein Zuhause verließ: "2015 erhielt ich einen Anruf von den Taliban. Wenn ich nicht aufhöre zu singen, bringen sie mich um, haben sie gesagt.“
Das Singen wird ihm zum Verhängnis
Aufgewachsen im Norden von Afghanistan, hatte Muradi bis zu diesem Tag ein "fantastisches Leben" in seinem Heimatland, sagt er. Mit seinem Onkel betrieb er ein Brautmoden- und Blumengeschäft. Da der Afghane aber seit seiner Kindheit leidenschaftlich gerne singt, habe sich der damals 20-Jährige bei einer Castingshow beworben.
Dafür ging Muradi in die Hauptstadt Kabul. Und tatsächlich, schnell zeichnet sich Erfolg ab: "Ich bin unter die besten 25 Musiker gekommen. Das hat mich so glücklich gemacht." Weil die Show auch im Fernsehen ausgestrahlt wurde, sei Muradi nach kurzer Zeit so etwas wie ein kleiner Superstar gewesen. "Fans haben mich auf der Straße erkannt und wir haben Fotos gemacht."
Morddrohung der Taliban
Doch dann der Schock: Weil den Taliban nicht gefällt, dass der Afghane singt, erhält Muradi die Todesdrohung. Sofort sei für ihn klar gewesen: "Ich muss Afghanistan verlassen." Also macht er sich über Pakistan und die Türkei auf nach Serbien und schließlich nach Deutschland. Dort bewirbt er sich in Hamburg um einen Aufenthaltsstatus.
"Die Behörden haben mich erst nach Neumünster, dann nach Kellinghusen und schließlich nach Sylt geschickt", erinnert sich der heute 27-Jährige. Als Muradi zusammen mit drei weiteren Afghanen mit dem Zug in Westerland ankommt, ist er jedoch alles andere als begeistert: "Es war kurz vor Weihnachten, kalt und dunkel. Am liebsten wäre ich auf der Stelle wieder umgekehrt." Zudem kannte Muradi niemanden auf der Insel und sprach kein Deutsch.
"Sylt ist mein zweites Zuhause"
Doch wie so oft im Leben läuft alles anders als gedacht: Kurz nach seiner Ankunft belegt der damals 20-Jährige einen Deutschkurs und beginnt eine Ausbildung im Hotel Stadt Hamburg als Fachkraft im Gastgewerbe. „Das war super. Dort habe ich alle meine Freunde kennengelernt und hatte das Gefühl, richtig anzukommen.“ Seit 2020 arbeitet der Afghane im Restaurant Badezeit in Westerland. Da das Restaurant aber im September dieses Jahres niedergebrannt ist, wartet der er gerade auf den Wiederbetrieb. „Ab Januar will ich mir auch noch einen Minijob suchen“, sagt er.
Wenn Muradi auf die letzten sieben Jahre zurückblickt, ist er „einfach nur froh“, dass es Sylt war, wo ihn die Behörden hinschickten. „Ich liebe Sylt und es ist gleich nach Afghanistan mein zweites Zuhause." Erst vergangene Woche, als er über einen Monat im Iran verbrachte, um seiner Frau bei der Flucht aus Afghanistan zu helfen, habe er gespürt, wie sehr er die Insel vermisst. „Es sind die Leute, die ich vermisse. Alle waren so hilfsbereit und so offen als ich hier angekommen bin. Ich konnte das gar nicht glauben.“ Umso schöner sei es für ihn, dass er nun endlich seine Frau nach Sylt habe holen können.
Wegen der Liebe: Von Brasilien nach Sylt
Mit diesem Gefühl der Geborgenheit ist Muradi nicht allein. Auch die gebürtige Brasilianerin Juliana de Assis Gieppner empfindet das so. De Assis Gieppner wirkt mit ihrem schwarzen Lockenkopf und ihrem breiten Grinsen aufgeschlossen. Auch sie kam ohne Kontakte und so gut wie keine Deutschkenntnisse vor zwölf Jahren nach Sylt. Ihr Anlass war im Gegensatz zu Muradis ihre Liebe zu ihrem heutigen Mann Marcus. Die beiden lernten sich über das Internet kennen.
„Bevor ich nach Sylt gekommen bin, wusste ich gar nicht, dass es auch in Deutschland Inseln gibt“, sagt de Assis Gieppner lachend. Auch ihre brasilianischen Freunde hätten dies nicht gewusst. Deshalb, so die 44-Jährige, war sie bei ihrem ersten Besuch im Sommer 2008 auch gleich begeistert. Da de Assis Gieppner zu diesem Zeitpunkt bereits selbst auf einer Insel im Süden von Brasilien lebt, sah sie gleich gewisse Parallelen wie etwa die Nähe zum Meer oder der eigene Rhythmus, den die Insulaner leben.
Als die Brasilianerin sich 2011 schließlich dazu entscheidet, nach Deutschland und damit nach Sylt zu ziehen, war es anfangs alles andere als leicht. „Die Leute waren zwar nett und willkommen heißend, aber es hat ein wenig gedauert, bis ich hier Freunde gefunden habe.“ Vor allem, weil es kaum schwarze Leute gab, zu denen de Assis Gieppner sich selbst zählt, habe sie Zeit gebraucht, um sich zuhause zu fühlen. Erst als sie 2012 ihren Sohn zur Welt brachte, habe die Brasilianerin sich „anders angenommen“ gefühlt, sagt sie.
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„Mittlerweile habe ich hier so viele tolle Freunde und Personen, denen ich nahestehe.“ Darunter auch viele, die nicht von der Insel kämen. „Eine meiner besten Freundinnen ist zum Beispiel aus Kasachstan. Und ihr Mann hat türkische Wurzeln“, erzählt de Assis Gieppner. Auch stammten die Betreiber ihres Lieblings-Italieners in Westerland allesamt aus Brasilien. „Wir haben zwar hier keine Community, aber einfach eine sehr große Gemeinschaft. Und das fühlt sich gut an.“