Morsum. Achim Bonnichsen fährt seit 40 Jahren mit der Bahn nach Sylt. Er sagt: Elementare Probleme auf der Insel hängen mit den Zügen zusammen.
Für Achim Bonnichsen beginnt ein normaler Tag immer um fünf Uhr mit dem ersten Kaffee. Um 6.01 Uhr steigt er in die Regionalbahn R6 nach Sylt, Ankunft in Morsum nach 21 Minuten um 6.22 Uhr. Um 16 Uhr geht es meistens wieder zurück. So weit die Theorie.
In der Praxis zählt der 55-Jährige schon gar nicht mehr die Tage, an denen er mit drei, fünf oder zehn Minuten Verspätung in seinem Geschäft, zufällig direkt am Bahnhof Morsum gelegen, tatsächlich ankommt.
Sein Onkel Peter gründete einst das erste Unternehmen für Fliesen-, Marmor- und Kunststeinarbeiten auf der Insel, seit 2008 Jahren führt er es weiter. Auf die Insel zu ziehen, darauf hat der Dagebüller keine Lust, zu viel Stau während der Hauptsaison, zu wenig und zu teurer Wohnraum auf Sylt. Also fährt Bonnichsen Bahn, wie rund 6000 andere Pendler, die sich keine Bleibe auf der Insel leisten können oder wollen. Und wenn er eines gelernt hat, dann das: Mit der Bahn zu fahren, heißt, mit ihr zu leiden.
Sylt: Züge fallen aus oder fahren verspätet
Verspätungen und Zugausfälle sind an der Tagesordnung, was alles negativ beeinträchtigen kann, ob Polizei, Pflegeeinrichtung, Gastronomie oder Verkäuferinnen und Verkäufer. Dienstleister eben. Nach seiner Meinung hat der Fachkräftemangel auf Sylt auch damit zu tun, dass die An- und Abfahrt so nervig ist. „Wir können doch nicht nur für acht, neun Stunden bezahlt werden, sind aber zwölf bis 14 Stunden unterwegs, das funktioniert nicht. Viele konnten den Stress nicht mehr ertragen.“
Kuriositäten hat Bonnichsen reichlich auf Lager. Gerade erst hat der Lokführer einen Zugbegleiter am Bahnhof vergessen und ist ohne ihn losgefahren. „Der musste mit dem Taxi nachkommen.“
Während der 9-Euro-Ticket-Phase habe der Zuwachs nur bei rund 20 Prozent gelegen. Klar, wenn die Hamburger Tagesausflüge unternommen haben im Sommer und zwischen 16 und 18 Uhr zurückfuhren, waren die Züge proppevoll. Doch diese Züge mieden die Pendler natürlich, falls irgendwie möglich. „Auffällig war, dass sich viele Urlauber in der Sommersaison auf dem Festland einbuchten und dann jeden Tag mit dem Zug nach Sylt fuhren. Hat ihnen eine Menge Geld gespart. Ferienwohnungen sind ja auf dem Festland deutlich günstiger zu bekommen.“
Viele Zugausfälle wegen des engen Zeitplans
Die Züge der Marschbahn sind von 2004 und entsprechend abgenutzt. So genannte „Refreshs“, also Aufarbeitungen oder Modernisierungen, wurden nur in Teilen durchgeführt, zum Beispiel beim Austausch der Sitzbezüge. Versprochen war das Einrichten von Wlan, auf die Umsetzung warten die Bahnfahrer noch heute. Die Klimaanlagen versagen ihren Dienst bei höheren Temperaturen, außerdem klemmen häufig die Türen. Das wiederum führt zu Verspätungen, die im engen Zeitplan zwischen dem Festland und der Insel sofort einen Schneeballeffekt haben.
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„Drei Minuten Karenzzeit gibt es im Fahrplan pro Stunde“, rechnet Bonnichsen vor. „Wenn das Kontingent aufgebraucht ist, verschiebt sich alles und kann im Laufe des Tages zu Zugausfällen führen, weil alles nicht mehr passt.“ Im Stellwerk in Niebüll würden die Züge, so Bonnichsen, die nur eingleisig über den Hindenburgdamm fahren können, noch nicht mit dem Computer eingeteilt.
In besonderen Phasen wie rund um Pfingsten oder Ostern, werden täglich 16 zusätzliche Autozüge eingesetzt für die Touristen. „Sie können sich vorstellen, was dann hier los ist.“
Sylt: Bahnfahrer-Gruppe bei Facebook mit 5617 Mitgliedern
Es braucht nicht mal eine Kaffeelänge in seinem Geschäft um zu verstehen, wie tief sich der Handwerksmeister, der seit 40 Jahren pendelt, in die Bahnmaterie eingearbeitet hat. Denn Bonnichsen möchte nicht nur rummaulen und kritisieren, er setzt sich seit Jahren intensiv für die Belange der Pendler nach und von Sylt ein und für Verbesserungen. Bei Facebook gibt es die private Gruppe „NOB Pendler Husum-Westerland“, die derzeit 5617 Mitglieder hat. Sie soll helfen, Verspätungen mitzubekommen, Fahrkarten können zum Tausch oder Verkauf angeboten werden, ebenso wie Mitfahrgelegenheiten.
Bonnichsen ist ihr Sprecher und einer der fünf Administratoren der Facebook-Gruppe, denn längst hat es die Gemeinschaft geschafft, sich auch in der Politik Gehör zu verschaffen – nach Anlaufschwierigkeiten. Nur zu gut kann er sich daran erinnern, wie ein früherer Verkehrsminister einmal mit dem Zug nach Westerland fuhr, der aber zuvor gereinigt worden war und absolute Vorfahrt im Schienenverkehr genoss. „Als, ich bin hier pünktlich auf die Minute angekommen“, sagte der Politiker nach der Ankunft stolz.
Planungen für den zweigleisigen Ausbau der Strecke haben begonnen
Doch mit den Aufzeichnungen über die Verspätungen, die deutlich von den Statistiken der Bahn abwichen, konnte die Not nachhaltig deutlich gemacht werden. Unvergessen auch sein Erlebnis mit einem Staatssekretär, der nach seiner Ankunft in Westerland dem Gastgeber erstaunt mitteilte: „Mensch, Herr Bonnichsen, Sie haben ja gar keine Straße auf die Insel.“ Da habe er sich gefragt: „Wo soll ich bei ihm jetzt anfangen, in der Steinzeit, bei Adam und Eva? Wo hole ich ihn jetzt ab?“
Immerhin, inzwischen tut sich was. Die Planungen für den zweigleisigen Ausbau der Marschbahn zwischen Niebüll und Klanxbüll haben begonnen. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur hat die Deutsche Bahn mit dem Ausbau des Abschnittes beauftragt. Durch das zweite Gleis auf dem 13 Kilometer langen Streckenabschnitt soll die Geschwindigkeit von bisher 100 km/h auf 140/h erhöht werden können, die Zahl der wartenden Züge soll verringert werden können. Doch frühestens 2030 ist mit der Fertigstellung zu rechnen.
Pendler nach Sylt müssen weiter leiden
Bis dahin müssen Bonnichsen und die anderen Pendler weiter leiden. Sein größter Wunsch bis dahin: „Ein Fahrplan, der auch wirklich funktioniert, auf den man sich verlassen kann. Im Moment müssen wir immer ein, zwei Züge früher nehmen, wenn wichtige Termine anstehen. Und wenn ich einen Zahnarzttermin habe, kann ich mir gleich einen Urlaubstag eintragen.“ Ein funktionierendes Internet während der ganzen Strecke, das wäre ein Traum.
Wir verabschieden uns an der Tür seines Unternehmens. Beim Abschied rauscht nur ein paar Meter entfernt eine Zug vorbei. Die Bahn, sie gehört fest zu Bonnichsens Leben. Aber einen Rückzugsort hat er sich dann doch geschaffen: „Mein Arbeitszimmer habe ich auf die hintere Seite des Gebäudes gelegt.“