Westerland. Bis vor kurzem war die Ankerstube eine Apotheke, nun können hier Geflüchtete zur Ruhe kommen und Insulaner treffen.

Bunte Handabdrücke in Herzform angeordnet zieren die Fensterscheibe der ehemaligen Nordsee-Apotheke in der Strandstraße in Westerland. Daneben steht in roter Schrift: „Ankerstube“. Dahinter verbirgt sich ein Anlaufpunkt für Geflüchtete und Einheimische, der seit Anfang Juli die Möglichkeit bietet, sich auszutauschen, bei Bedarf Baby- und Kinderkleidung zu bekommen oder Hilfe beim Ausfüllen von Formularen. Eltern können Kaffee trinken, für Kinder gibt es eine große Spielecke.

„Ursprünglich hatten wir geplant, die Räumlichkeiten für ein Jahr zu vermieten“, sagt Henrik Simonsen, der seit zehn Jahren das Modegeschäft Simonsen by Simonsen nebenan betreibt und die ehemalige Apotheke zusammen mit seiner Frau Hanna Simonsen-Richter gekauft hat, um seinen Laden zu vergrößern. „Aber dann kam der Krieg in der Ukraine und die Nachrichten wurden jeden Abend schlimmer. Mir wurde das zu viel, da habe ich beschlossen, zu helfen“, sagt der gebürtige Däne.

Sylt: Treffpunkt für Geflüchtete und Einheimische

Die internationale Begegnungsstätte Ankerstube soll geflüchteten Frauen die Möglichkeit geben, einen „Ruhepunkt“ zu haben. „Eine Auszeit, in der sie alles ausblenden und sich austauschen können.“ Darüber hinaus werde Hilfe beim Übersetzen von offiziellen Papieren angeboten – alles ehrenamtlich. „Ich bin ja Däne und kenne den Papierkrieg, den es hier in Deutschland gibt“, sagt Simonsen und lacht.

Die Ankerstube sei jedoch nicht nur für Geflüchtete ins Leben gerufen worden, betont der Unternehmer, der erst vor Kurzem mit seiner Familie von Hamburg auf die Insel gezogen ist, „sondern auch für Einheimische, die Bedarf haben“. Entstanden sei das Projekt schließlich gemeinsam mit der Gemeinde, dem Förderverein „Gesucht-Gefunden Sylt“, Handwerkern und zahlreichen Ehrenamtlichen, die mit Spenden und Engagement unterstützt haben. „Es war fantastisch zu sehen, was man miteinander entwickeln kann. Die Welt ist so brutal und es kann so schön sein, wenn alle an einem Strang ziehen.“

Hauseigentümer äußerten Bedenken gegen Geflüchteten-Treffpunkt

Ein wenig Gegenwind habe es jedoch auch gegeben. „In dem Haus, wo wir die Ankerstube eröffnet haben, gibt es 92 Eigentümer“, sagt Simonsen. Nicht alle seien begeistert gewesen. Einige äußerten Bedenken und Ängste. „Ich habe unsere Idee dann bei einer Eigentümerversammlung vorgestellt, und damit waren alle beruhigt.“

Die ehemalige Apotheke wurde liebevoll umgebaut und eingerichtet.
Die ehemalige Apotheke wurde liebevoll umgebaut und eingerichtet. © Joana Ekrutt

Dass die Begegnungsstätte sowohl von Einheimischen als auch von Geflüchteten aufgesucht wird, wird vor Ort schnell deutlich. An einem Tisch vor einer Wand, über deren gesamte Breite ein Strandmotiv gemalt ist, sitzen zwei Ehrenamtliche und helfen einer Ukrainerin beim Übersetzen eines Dokuments, während ihr Sohn herumläuft und das Spielzeug begutachtet.

Die Sylterinnen Freda Möbus (l.) und Ricarda Lemke möchten in der Ankerstube helfen.
Die Sylterinnen Freda Möbus (l.) und Ricarda Lemke möchten in der Ankerstube helfen.

Von Tischen mit Mal- und Bastelutensilien über Bücher bis hin zu einer Spielecke für die ganz Kleinen ist alles vorhanden. Dort haben sich die Sylterinnen Ricarda Lemke und Freda Möbus mit ihren beiden Kindern niedergelassen. Sie haben über Facebook von dem Projekt erfahren und sind vorbeigekommen, um ihre Hilfe anzubieten.

Kateryna aus der Ukraine: "Hier können wir uns gegenseitig trösten"

Derweil suchen zwei Ukrainerinnen in den Regalen mit der Babykleidung nach etwas Passendem für ihren Nachwuchs. Hilfe bekommen sie dabei von Kateryna Nahorna. Die 34-Jährige ist mit ihren vier Kindern aus der stark umkämpften südukrainischen Stadt Cherson geflohen. Als sie von ihrer Flucht erzählt, muss sie mit tränenerstickter Stimme abbrechen.

„Ich bin sehr dankbar und sehr glücklich darüber, dass meine Kinder hier ohne Angst spielen können“, sagt Nahorna dann, die in ihrer Heimat als Deutsch- und Englischlehrerin gearbeitet hat. Der Austausch mit anderen Geflüchteten in der Ankerstube sei sehr wichtig für die junge Mutter. „Wir haben Schmerzen in unseren Herzen. Hier können wir uns gegenseitig trösten.“

An zwei bis drei Tagen in der Woche hilft Nahorna als Ehrenamtliche in der Begegnungsstätte. „Es ist sehr wichtig für mich, alles, was ich kann zu tun, damit die Welt, die wir jetzt haben, ein bisschen besser wird.“

224 Geflüchtete auf Sylt registriert

„Das generelle Feedback ist sehr postitiv“, sagt Ulrike Bergmann von „Gesucht-Gefunden Sylt“. Über die Facebook-Seite des digitalen Nachbarschaftsnetzwerks würden sich auf jeden Aufruf Menschen melden. „Egal, ob wir jemanden brauchen, der uns einen Schrank an der Wand anbringt oder ein Auto für einen Transport bereitstellt - wir bekommen ganz viel Unterstützung.“

Kateryna Nahorna (M.) ist aus der Ukraine geflüchtet und hilft anderen Ukrainerinnen in der Ankerstube beim Ankommen auf Sylt.
Kateryna Nahorna (M.) ist aus der Ukraine geflüchtet und hilft anderen Ukrainerinnen in der Ankerstube beim Ankommen auf Sylt. © Joana Ekrutt

Aktuell seien insgesamt 224 Flüchtlinge auf Sylt registriert, sagt die Sylter Ehrenamtskoordinatorin Ulrike Körbs, die ebenfalls in der Ankerstube aktiv ist. „Das sind diejenigen, die Leistungen beziehen. Etwas mehr als die Hälfte davon sind Ukrainer, der Rest kommt aus anderen Ländern und wurde uns über den Verteilungsschlüssel zugewiesen.“ Die Ankerstube sei das derzeit größte Hilfsprojekt auf der Insel.

Sylt: Geflüchtete leben derzeit in sogenannten Abrisshäusern

„Die Flüchtlinge werden hier mit offenen Armen empfangen“, so Körbs. „Es ist ein sehr gutes Miteinander, auch mit den ganzen Ehrenamtlichen.“ Problematisch könnte es jedoch werden, wenn die Geflüchteten darauf angewiesen sein werden, Wohnraum zu finden. Aktuell sind sie in sogenannten Abrisshäusern des Kommunalen Liegenschafts-Managements untergebracht. Die beiden Wohnblocks aus den 60er- und 70er-Jahren in Westerland, die eigentlich für den Abriss vorgesehen sind, wurden von Helfern wohntauglich hergerichtet.

„Wohnraum auf Sylt ist schwer zu finden und nicht bezahlbar“, gibt Ehrenamtskoordinatorin Körbs zu Bedenken. Um die 5000 Menschen würden täglich auf die Insel pendeln. Die Gemeinde prüfe derzeit, mögliche Anschlussunterbringungen für die Geflüchteten.

Das Ehepaar Simonsen-Richter hat einen Treffpunkt für Geflüchtete und Einheimische geschaffen.
Das Ehepaar Simonsen-Richter hat einen Treffpunkt für Geflüchtete und Einheimische geschaffen. © Henrik Simonsen

Sylt: Ankerstube soll an anderem Ort weiter betrieben werden

Und auch die Ankerstube wird nicht auf Dauer in der Westerländer Strandstraße bleiben. „Das Projekt läuft noch bis Ende des Jahres“, sagt Initiator Simonsen. Dann soll die Begegnungsstätte an einem anderen Ort weiter betrieben werden. Obwohl er einiges an Zeit und Energie in die Realisierung des Treffpunkts gesteckt habe, und während der gesamten Dauer auf Mieteinnahmen verzichtet, „ist es das am Ende wert“, sagt der Familienvater, „auch als Vorbild für meine Kinder“.

Ankerstube, Strandstraße 22 in Westerland: Montag bis Sonnabend von 9 – 11 und Montag bis Freitag von 16 – 18 Uhr geöffnet. Benötigte Sachspenden werden über die Facebookseite von Gesucht-Gefunden Sylt geteilt. Wer Geld spenden möchte, um den Weiterbetrieb der Ankerstube auch über das Jahresende hinaus zu gewährleisten, kann auf folgendes Spendenkonto überweisen: GGS-Förderverein e.V. IBAN DE53 2174 1825 0195 6622 00, Verwendungszweck Ankerstube.