Kiel. Drohungen und Gewalt gegen Parlamentarier nehmen zu. Kieler Landtag solidarisiert sich mit Opfern: „Abwehrkräfte mobilisieren!“
Erst kamen die Schmähungen per Post, dann steigerte es sich mit Beleidigungen und Drohungen per Mail. Und schließlich, wieder mit der Post, kam die Schlinge, versehen mit der Bitte, dem Absender die Arbeit abzunehmen. Seit Oktober wird der Ahrensburger Kommunalpolitiker Stephan Lamprecht aufs übelste angegangen. Vielleicht, weil er grün ist, wahrscheinlich, weil er sich als queer geoutet hat. Stephan Lamprecht – wir berichteten über seinen Fall – ist einer der vielen ehrenamtlichen Politiker, die wie Freiwild angegangen werden. Vielen hauptamtlichen Abgeordneten geht es nicht besser.
Diese Politikerinnen und Politiker hatte die schleswig-holsteinische Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) vor Augen, als sie am Donnerstag, am 75. Geburtstag des Grundgesetzes, im Kieler Landtag davon sprach, es sei etwas „gesellschaftlich ins Rutschen gekommen. Wir sind erschüttert von dem Hass gegen Mandatstragende und Wahlhelferinnen und Wahlhelfer, der dieser Tage – so kurz vor der Europawahl – um sich greift“, sagte die CDU-Politikerin und erinnerte an „Beleidigungen in Uetersen, Drohungen in Ahrensburg, kaputte Fensterscheiben und geworfene Eier auf Parteigeschäftsstellen.“
Hass gegen Politiker: Parteien warnen Wahlkämpfer
Der Bundestag führt über alles mögliche Statistiken. So auch über Angriffe auf Politiker. Die zunehmende Radikalisierung eines Teils der Gesellschaft macht sich auch an den Zahlen für 2023 fest: 2790 Angriffe auf Politiker hat es nach vorläufigen Zahlen der Parlamentsdatenbank im vergangenen Jahr gegeben, die registriert und angezeigt wurden. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein bei diesem Anzeige-Delikt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser spricht gar von 3691 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger sowie Vertreter von Parteien, darunter 80 Gewaltdelikte.
Und es hört nicht auf. Je dichter die Wahlen zum Europaparlament oder ostdeutschen Landtagen rücken, desto gravierender die Taten. Für besondere Empörung sorgte zuletzt ein Angriff auf den EU-Abgeordneten Matthias Ecke in Dresden. Der SPD-Politiker erlitt dabei Knochenbrüche im Gesicht und musste operiert werden.
Parlament: Klima der Angst und Einschüchterung verhindern
Angesichts solcher Angriffe haben auch die Hamburger Parteien Vorsichtsmaßnahmen im Wahlkampf ergriffen. Und in Schleswig-Holstein raten die Landesverbände ihren Mitgliedern zu besonderer Achtsamkeit im Straßenwahlkampf. „AfD-Mitglieder diskutieren in Potsdam, wie sie Bürgerinnen und Bürger mit Einwanderungsgeschichte aus unserem Land vertreiben können. Reichsbürger planen Staatsstreiche. Dazu vergiften menschenfeindliche Akte, wie das Verbrennen der Regenbogenflagge in Flensburg, die Stimmung im Land“, kritisierte Sütterlin-Waack am Donnerstag im Kieler Landtag.
Angesichts der Angriffe, Drohungen und Pöbeleien forderte die CDU-Politikerin „die Prinzipien der Demokratie zu verteidigen“ und die „demokratischen Institutionen und mit ihnen die vielen politisch Engagierten besser zu schützen“. Denn die freiheitlich demokratische Grundordnung werde (von innen) bedroht wie nie zuvor.
Einstimmig sprach der Landtag den „angegriffenen, bedrohten, beleidigten und verunglimpften“ Mandatsträgern und Verwaltungsangestellten seine Solidarität aus. Das Parlament werde nicht zulassen, dass sich in Schleswig-Holstein ein Klima der Angst und Einschüchterung verbreite. Notfalls müsse – wie zuletzt in Ahrensburg – die Polizei den Schutz der kommunalen Parlamente gewährleisten. Einstimmig erklärten die Parlamentarier, sich allen Kräften entgegenzustellen, die durch Drohungen und Gewalt das Vertrauen in die Demokratie und die politischen Institutionen erschüttern wollten. Schließlich wolle man nicht in einem Land leben, in dem es Mut brauche, die eigene Meinung zu sagen.
SPD-Chefin: Menschenwürde und Demokratie schützen und verteidigen!
Ebenfalls einstimmig hat der Landtag beschlossen, demokratische Institutionen wie das Landesverfassungsgericht gegen Missbrauch zu sichern. So werde die Landesverfassung, die Geschäftsordnung und die Gerichtsverfassung des Landesverfassungsgerichts überprüft und bei Bedarf verschärft. Damit will der Landtag – der einzige in Deutschland ohne AfD ist – verhindern, dass „demokratische Strukturen aus dem Parlament heraus ausgehöhlt oder delegitimiert werden“, was in Thüringen oder Sachsen nach den Landtagswahlen drohen könnte. Der Schutz der demokratischen Institutionen vor Missbrauch oder Obstruktion durch gewählte Parlamentarier sei bisher nicht erforderlich gewesen – jetzt aber schon, hieß es.
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„Wir müssen die Abwehrkräfte der Demokratie mobilisieren“, forderte die SPD-Landes- und Fraktionschefin Serpil Midyatli. „In einer Zeit, in der politische Kräfte laut und brutal an alte Zeiten anknüpfen wollen, ist es unsere Pflicht, Menschenwürde und Demokratie zu schützen und zu verteidigen!“ Wie Midyatli, betonten Redner aller Fraktionen die Bedeutung des Grundgesetzes. Es sei Grundlage der freiheitlich-demokratischen Ordnung in Deutschland, müsse aber auch gegen Angriffe geschützt werden.