Brokstedt/Itzehoe. Verfahren nähert sich dem Ende. Staatsanwältin fordert Feststellung der „besonderen Schwere der Schuld“. Kommt Ibrahim A. nie mehr frei?
Ibrahim A., der Mann, über den bundesweit als „Messerstecher von Brokstedt“ berichtet wurde und in dessen Fall deutsche Behörden Fehler über Fehler begangen haben, soll wegen zweifachen Mordes und vierfachen Mordversuchs lebenslang in Haft. Das forderte Staatsanwältin Janina Seyfert am Donnerstag in ihrem Plädoyer vor dem Itzehoer Landgericht. Zudem beantragte sie die Feststellung der „besonderen Schwere der Schuld“. Damit wäre eine Freilassung nach 15 Jahren Haft unmöglich.
Der renommierte forensische Psychiater Arno Deister, der den Prozess seit der Eröffnung im Sommer 2023 begleitet, hatte sich vor einer Woche für eine Sicherungsverwahrung des Angeklagten starkgemacht. Seine Begründung: Von dem Palästinenser gehe weiter eine Gefährdung für die Allgemeinheit aus. In seinem Gutachten attestierte Deister Ibrahim A. unzweifelhaft die Schuldfähigkeit am Tag der Tat. Der 34-Jährige leide nicht an einer krankhaften seelischen Störung, seine Intelligenz sei nicht relevant gemildert, die Tat geschah nicht im Affekt. So lautet Deisters Resümee.
Messerstecher von Brokstedt: Eltern als Nebenkläger
Mit seinem Gutachten und der negativen Prognose für Ibrahim A. widersprach der erfahrene Forensiker A.s Rechtsbeistand Björn Seelbach. Der Bonner Strafverteidiger hatte von Beginn an des Prozesses mit Blick auf eine früher attestierte Psychose die Unterbringung seines Mandanten in der Psychiatrie gefordert. An dieser Strategie hielt Seelbach auch an diesem Donnerstag fest, als er zum Ende der Beweisaufnahme ein Gegengutachten einforderte. Anders als Deister, der Ibrahim A. eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, attestierte, geht Seelbach von einer Psychose aus, die bei seinem Mandanten „ab und an und unter Stress“ auftrete.
Nach zweieinhalbstündiger Beratung war für das Gericht klar: Es wird kein zweites Gutachten geben, der Antrag wurde abgelehnt. Das Gericht macht sich Deisters Argumentation zu eigen, wonach eine PTBS vorliege, aber keine Psychose. „Die Sachkunde Professor Deisters steht offensichtlich außer Zweifel“, sagte Richter Johann Lohmann. Er nannte die Ableitungen des Gutachters überzeugend und hinreichend begründet.
Für Seelbach müsse Ibrahim A. mangels Schuldfähigkeit freigesprochen und im Maßregelvollzug untergebracht werden. Laut Seelbach habe sein Mandant am Tattag an einer psychotischen Störung gelitten. Sollte das Gericht diese Argumentation ablehnen, dürfe sein Mandant aber nur wegen zweifachen Totschlags verurteilt werden, schließlich habe keine Tötungsabsicht vorgelegen, behauptete Seelbach. Im Fall eines Totschlags dürfe Ibrahim A. maximal zu zehn Jahren Haft verurteilt werden.
„Ich bin vorsichtiger geworden“, „Die Angst ist immer noch da“, „Ich kann bis heute nicht mehr Zug fahren“, „Ich musste mir eine neue Ausbildungsstelle suchen.“ Zu Beginn ihres Plädoyers erinnerte Janina Seyfert am Donnerstag an Aussagen überlebender Zeugen. Anders als Verteidiger Seelbach, geht die Staatsanwältin seit Beginn des Prozesses von der Schuldfähigkeit des Angeklagten aus. Sie wirft dem 34-Jährigen Heimtücke und niedrige Beweggründe als Mordmotive vor.
Teenager hatten keine Chance beim heimtückischen Angriff
Ibrahim A. war am 19. Januar 2023 nach einem Jahr Haft aus der JVA Billwerder entlassen worden. Die nächsten Tage verbrachte er in einer Unterkunft des Hamburger Winternotprogramms an der Norderstraße. Am 25. Januar versuchte er, in Kiel seinen Aufenthaltstitel verlängern zu lassen. Vergeblich. Er drang weder beim Einwohnermeldeamt, noch in der Ausländerbehörde durch. Von Ämtern abgewiesen, stahl er in einem Kieler Famila-Markt ein Fleischmesser mit einer 20 Zentimeter langen Klinge, um „es gegen andere Menschen zu verwenden“, plädierte die Staatsanwältin.
Auf der Rückfahrt mit der Regionalbahn 70 griff er gegen 14.45 Uhr mit diesem Messer in Höhe von Brokstedt wahllos Fahrgäste an. Die 17-jährige Ann-Marie und ihr zwei Jahre älterer Freund Danny hatten keine Chance, sich gegen die brutale Messerattacke zu wehren. Sie starben noch im Zug. 27 Stiche und Schnitte haben die Hamburger Gerichtsmediziner bei der Leichenschau allein bei der 17-Jährigen gezählt, 16 davon in Gesicht und Hals. Danny starb an den Folgen von zwölf Schnitten und Stichen. Mit „unbedingter Tötungsabsicht“ sei Ibrahim A. anschließend über die nächsten vier Fahrgäste hergefallen. Dass sie zu Opfern wurden, war reiner Zufall – Ibrahim A. stach laut Staatsanwältin in Tötungsabsicht auf jeden und jede ein, dem er begegnete.
Vermutlich sei der Täter in einem Moment ihrer Wehr- und Arglosigkeit über Ann-Marie hergefallen, glauben die UKE-Ärzte, die die Leiche obduziert haben. Das entspräche dem Mordmotiv der Heimtücke. Das könnte im Fall Dannys anders sein. Richter Lohmann deutete am Donnerstag an, dass hier unter Umständen Heimtücke nicht gegeben sein könnte – weil sich Danny schützend vor seine angegriffene Freundin gestellt hatte. Alternativ prüft das Gericht, ob hier als Motiv „Mordlust“ zum Tragen kommt. Sollte das Gericht sowohl „Mordlust“ als auch „Heimtücke“ ausschließen, könnte es sich in Dannys Fall auch um Totschlag handeln, so Lohmann.
97 Zeugen hat das Landgericht an insgesamt 38 Verhandlungstagen seit Anfang Juli 2023 vernommen. Die Entscheidung der großen Strafkammer ist für Mitte Mai geplant. Die Eltern der beiden Teenager lassen sich als Nebenkläger von Anwälten vertreten. Es wäre für sie nicht auszuhalten, müssten sie der Verhandlung beiwohnen. Das hatten sie im Gespräch mit dem Abendblatt gesagt.
Maßgeblich für Urteil und Strafmaß wird sein, ob auch das Gericht Ibrahim A. für den Zeitpunkt der Tat als schuldfähig einstuft. Der Mann mit Familie in Gaza war 2014 über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute nach Deutschland eingereist. Hier jobbte Ibrahim A. als Paketzusteller, machte ein Praktikum bei einem Schlosser, arbeitete auf dem Bau. Nichts jedoch von Dauer.
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Stattdessen fiel der Palästinenser auch schon lange vor der Messerattacke in der Regionalbahn immer wieder kriminell auf. Trotz mindestens vier Verurteilungen vor Strafgerichten in NRW und Hamburg hatte A.s Verhalten keinerlei ausländerrechtliche Konsequenzen – seine Duldung wurde immer wieder verlängert: erst in Nordrhein-Westfalen, dann in Schleswig-Holstein und schließlich in Hamburg, wo er wegen eines Messerangriffs ein Jahr in Haft saß.