Brokstedt. Wer die liberale Gesellschaft stärken will, muss aus diesem Fall lernen. Der Täter aus dem Zug hatte sein Gastrecht längst verwirkt.

Er sei liberal – aber nicht doof. Mehr als 20 Jahre ist es jetzt her, dass dieser Satz fiel. Er wolle auch repressive Mittel nutzen, im Kampf gegen Kriminelle habe er „keine Beißhemmung“. Der Mann, der das gesagt hat, ist Olaf Scholz. Geholfen hat es ihm nicht, 100 Tage nach dem Interview im „Spiegel“, in dem Scholz den harten Macher herauskehrte, ging die Bürgerschaftswahl für die SPD und ihren damaligen Innensenator krachend verloren.

Vermutlich fehlt dem Bundeskanzler von heute die Zeit, um im Detail zu verfolgen, was sich vor einem Jahr 50 Kilometer nördlich seiner Heimatstadt, in Brokstedt, zugetragen hat. Und dabei vor allem zu verfolgen: welche Fehler sich vor der Messerattacke in der Regionalbahn in der Kommunikation zwischen Behörden in Hamburg, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aneinanderreihten.

Die Fehlerkette vor der Messerattacke

Dieser Fall hat alles, um das Grundvertrauen in einen funktionierenden Rechtsstaat nachhaltig zu erschüttern. Die von Scholz so vollmundig verkündete fehlende Beißhemmung – sie fehlte im Fall des 34 Jahre alten Ibrahim A. jeder Behörde, jedem Amt, jedem Gericht. 2014 ist der heute 34 Jahre alte Mann nach Deutschland gekommen. Jahr um Jahr hielt es keine Behörde für nötig zu überprüfen, ob seine Angabe überhaupt stimmt, staatenloser Palästinenser zu sein, was eine Abschiebung extrem erschwert. Jahr um Jahr ermittelte die Polizei aufs Neue gegen ihn, ohne das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu informieren.

Als er aus einem Bundesland verschwand und im nächsten auftauchte, fehlte jeder Hinweis auf polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Ermittlungen. Als er in Hamburg einen Mann aus nichtigem Anlass niederstach und schwer verletzte, war das dem Amtsgericht nicht mehr als ein Jahr Haft wert. Als das Bundesamt doch noch die Abschiebung vorantreiben wollte, galt Ibrahim A. als unauffindbar – obwohl er in Hamburg in Haft saß. Als er entlassen wurde, dauerte es Tage, bis offizielle Hinweise andere Stellen erreichten. In der Zwischenzeit hatte Ibrahim A. zwei junge Menschen getötet, vier weitere Fahrgäste körperlich wie seelisch schwer verletzt, eine Frau in den Selbstmord getrieben.

Das Desinteresse an Ibrahim A. in so vielen Behörden

Das einzig Gute am „Fall Brokstedt“ ist neben der sehr zügigen und penibel genauen juristischen Aufarbeitung die intensive, für alle Behörden schmerzhafte politische Aufklärungsarbeit. Die Fehlerkette hatte nicht einen alles überragenden Grund. Das Desinteresse an Ibrahim A. in so vielen Behörden lag nicht allein einer falsch verstandenen Liberalität, nicht nur an der Überlastung der Behördenmitarbeiter, nicht nur am fehlenden Datenaustausch zwischen Behörden mehrerer Länder. Es war wohl eine Mischung von alledem.

Ob sich mit den eingeleiteten Maßnahmen ein zweiter „Fall Brokstedt“ ausschließen lässt? Vermutlich nicht. Aber das Risiko, dass sich die todbringende Verkettung von Fehlern wiederholt, scheint zumindest geringer geworden zu sein.

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Eine in breiten Teilen der Gesellschaft akzeptierte humane Flüchtlingspolitik muss liberal sein, aber nicht doof, um bei Scholz‘ Worten zu bleiben. Sie muss das Sicherheitsempfinden der Bürger stärken. Dazu gehört auch, genau zu schauen, wer nach Deutschland darf, und konsequent abzuschieben, wer hier nicht her passt. Ein Mensch wie Ibrahim A. hatte sein Gastrecht schon vor der Tat von Brokstedt längst verwirkt.