Kiel/Hamburg. Wirtschaftsminister Claus Madsen hat eine Bundesratsinitiative gestartet. Ihm erscheint das Thema als „Lebensaufgabe“. Firmen leiden.

Der Anfang ist gemacht. Mehr ist aus Sicht von Claus Madsen noch nicht passiert. Aber zumindest einen ersten Schritt zur Entbürokratisierung deutscher Vorschriften, Regeln, Normen und Gesetze sieht der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister gegangen, nachdem der Bundesrat in der jüngsten Sitzung die Bundesregierung auf seine Initiative hin aufgefordert hat, die Vorschriften zu entrümpeln, die Unternehmen ausbremsen.

Für jede neue Regel sollen jetzt erst einmal zwei alte gestrichen werden. Zur besseren Identifizierung nicht mehr benötigter Berichtspflichten könnten Vorschriften befristet ausgesetzt werden; neue Vorgaben sollten frühzeitig und bestehende Regelungen nachträglich auf ihre Praxistauglichkeit hin geprüft werden. Mehr als Aufforderungen an die Bundesregierung sind es nicht, die die Länderkammer formuliert hat. Aber es sind Forderungen mit zumindest großer Symbolkraft. Den Ansatz, dass künftig erst zwei bestehende Regeln gestrichen werden sollen, bevor eine neue erlassen wird, nennt Madsen einen „Türöffner“ oder eine „Mentalitätsänderung hin zu neuem Denken“.

Entbürokratisierung: Madsen spricht von „Lebensaufgabe“

Für Claus Madsen ist der Erfolg im Bundesrat ein „erster Schritt“. Wichtiger als jede einzelne Maßnahme ist ihm das Signal: Es geht so nicht weiter, wir müssen mit der Entbürokratisierung beginnen. Madsen nennt das, was vor ihm liegt, eine „quasi Lebensaufgabe“. Das Abendblatt hat mit Politikern, Kammern und Unternehmern gesprochen. Die Beispiele, um die es hier geht, stehen exemplarisch für das, was die Bürokratie den Firmen abverlangt. Egal ob die Unternehmen in Hamburg oder wie in diesem Artikel im Umland in Schleswig-Holstein ihren Sitz haben.

In Deutschland gibt es nahezu für alles eine Dokumentationspflicht. Werden Mitarbeiter geblendet? Flackern Leuchtstoffröhren und müssen ausgetauscht werden? Ist für ausreichende Beleuchtung gesorgt? Ist Tageslicht vorhanden? Reicht die Baustellenbeleuchtung aus? Vor jedem zu beantwortenden Punkt ist auf dem Fragebogen ein Haken zu setzen – unter dem grünen Smiley (sehr gut!) oder dem roten (ganz schlecht). Und natürlich sind noch die Felder für den „Handlungsbedarf“ und die „Wirksamkeit“ der Maßnahme auszufüllen. Allein dieses eine „Arbeitsblatt Gefährdungen und Schutzziele“ der Berufsgenossenschaft listet 100 Punkte auf, die Firmenchefs für ihre Beschäftigten ausfüllen müssen. Von diesen Arbeitsblättern und Fragebögen gibt es etliche. Deutschland bürokratisiert sich bis zum Stillstand.

Was der Handwerkskammer-Präsident sagt

Ralf Stamer ist 63 Jahre alt und seit 35 Jahren im Job. Wenn der Zimmerermeister damals einen Dachstuhl richtete, hat er das Holz bestellt, es beim Lieferanten abgeholt, zugeschnitten und das Gebälk aufgebaut. Will er heute einen Dachstuhl aufrichten, muss er erst die Zertifizierung des Holzes besorgen und dokumentieren. Bevor er das Holz zuschneidet, muss er seinen Mitarbeiter unterweisen, erst dann darf der die Handsäge benutzen. Dass er unterwiesen ist, muss Stamer dokumentieren. Beim Aufstellen des Dachstuhls muss er den Mitarbeiter jeden Morgen unterweisen, dass die Leiter, die er nutzt, auch in Ordnung ist. Auch das muss er dokumentieren. Nach zwei Stunden oben auf dem Dach muss der Mitarbeiter aus der Sonne, weil die Strahlung nicht gut ist. Stamer muss nachweisen, dass er seinem Mitarbeiter das gesagt hat.

Damit nicht genug. Ist der Dachstuhl schließlich aufgerichtet, muss Ralf Stamer dokumentieren, dass er alles richtig gemacht hat. Vor 30 Jahren hat man ihm als Handwerksmeister das geglaubt. Heute muss er es schriftlich bestätigen. Ralf Stamer ist nicht nur Zimmerer, er ist auch der Präsident der Handwerkskammer Lübeck. Die ist zuständig für das komplette Hamburger Umland. Wie Ralf Stamer leiden auch seine Kammerkollegen an der Bürokratie.

Zu viel Bürokratie in Schleswig-Holstein: Der Minister leidet mit

Claus Madsen, 51 Jahre alt, leidet mit. Madsen ist Däne, Unternehmer – und seit knapp zwei Jahren auch Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein. Als Firmeninhaber und ehemaliger IHK-Chef in Rostock weiß er, wie bürokratische Vorschriften und Gesetze das Unternehmertum ausbremsen. Mittlerweile bestehen in Deutschland rund 12.000 Berichtspflichten. Experten haben ausgerechnet, dass alle Firmen zusammen für deren Erfüllung jährlich rund 50 Milliarden Euro aufwenden müssen.

Auch auf Landesebene, also in seinem unmittelbaren Zugriffsbereich, gibt es Regeln und Vorgaben, die nerven. Aber die Hauptbürokratie spiele sich auf Bundes- und Europaebene ab, sagt Madsen. „Wir müssen von Normen abrücken, um schneller und effektiver zu werden.“ Der Kieler Wirtschaftsminister nennt als Beispiel für eine ausufernde Bürokratie, unter der nicht nur Unternehmen leiden, die DIN-Normen beim Bau von Radwegen. Die müssen eine Mindestbreite haben. Gibt es auf der gesamten Strecke eine kleine Engstelle, drohe der komplette Radwegebau zu scheitern. „Warum sagen wir nicht, dass es in Ordnung ist, wenn der Radweg auf 90 Prozent der Strecke der Norm entspricht und sie auf den restlichen zehn Prozent unterschreitet. Dann bekommen wir den Radweg, statt ihn nur zu planen“, sagt Madsen. Er hätte genauso ein Beispiel heranziehen können, unter dem Unternehmer ächzen.

Was das Statistische Bundesamt noch wissen will

Ralf Stamer, der Zimmerermeister, muss einmal im Quartal einen digitalen Fragenkatalog im Auftrag des Statistischen Bundesamtes ausfüllen. Wie jeder andere Unternehmer mit mehr als 20 Mitarbeitern auch. Betriebsdaten und Kennziffern fragen die Bundesstatistiker dann ab. Ist man routiniert darin, dauert die Beantwortung eine halbe Stunde. Fehlt die Routine, dauert es erheblich länger. Herr Stamer muss auch einmal im Jahr prüfen und dokumentieren, dass seine Mitarbeiter (noch) einen Führerschein haben. Jedes elektrische Gerät muss er alle zwölf Monate von einem Fachmann kontrollieren lassen. Für jede Baustelle verlangt die Berufsgenossenschaft eine dokumentierte Gefährdungsbeurteilung inklusive Schulung der Mitarbeiter. Das alles ist mühsam, kostet Zeit und wiederholt sich immer wieder. Es gibt Datenschutzvorgaben, Gefahrstoffkataster, Gefährdungsbeurteilungen, enge Vorgaben im Widerrufsrecht – „Bestimmungen, die so gut wie nie zum Tragen kommen, aber wir sind verpflichtet, darauf einzugehen“, sagt Unternehmer Martin Giencke aus Bad Oldesloe.

Das Bemerkenswerte ist: Die Probleme sieht nahezu jeder. Nur: Geändert werden die Vorschriften bestenfalls langsam. Auf Claus Madsen, den Dänen in Daniel Günthers Kabinett, wirkt der Bürokratieabbau schon sehr bürokratisch. Und sehr deutsch. Die Beharrungskräfte sind hoch, die Widerstände groß. Madsen weiß: Ist eine neue Regel oder Vorschrift erst einmal erlassen, wird es schwer, sie wieder loszuwerden. Sein Fazit: „Wir müssen früher ansetzen. Eine Regel im Entstehungsprozess zu verhindern ist einfacher, als sie später wieder zu streichen.“

Motto der IHK: „Nur wat mutt, dat mutt!“

Die Kammern in Schleswig-Holstein haben der schwarz-grünen Landesregierung eine Liste mit etwa 50 Forderungen zur Entbürokratisierung vorgelegt, nur drei davon hat das Kabinett durchgewinkt, sagt Kammerpräsident Stamer. Die meisten Vorbehalte gegen Lockerungen habe es im von grünen Politikern geführten Finanz- und Umweltministerium gegeben.

„Nur wat mutt, dat mutt!“ Unter diesem Motto macht auch die Industrie- und Handelskammer Schleswig-Holstein gegen die Belastungen durch die Bürokratie Stimmung. „Es ist die Fülle von Regelungen und ihre Unübersichtlichkeit, die in Unternehmen die Spielräume für ihr eigentliches Geschäft einengen und hohe Belastungen und Kosten verursachen“, schreibt die IHK. Um den Bürokratieabbau voranzubringen, fordert sie einen „Praxischeck“, also Gesetze in ausgewählten Unternehmen zu testen, bevor sie für alle Firmen verpflichtend würden. Auch müssten neue Gesetze regelmäßig evaluiert werden. Zudem spricht sich die IHK für eine „Verfallklausel“ aus. Damit sollten besonders belastende Gesetze regelmäßig neu bewertet werden. Erst danach dürften sie – erneut befristet – zugelassen bleiben.

Bürokratie hält ausländische Fachkräfte ab zu kommen

Für die IHK ist der Bürokratieabbau Grundvoraussetzung, um Deutschland für ausländische Fachkräfte attraktiver zu machen. „Unendlich lange Wartezeiten, eine Masse benötigter Formulare und starre Vorgaben schrecken potenzielle Fachkräfte ab.“ Wie schwer es die Bürokratie ausländischen Arbeitskräften und deutschen Firmen macht, haben Martin Giencke und seine Frau Claudia Block-Giencke nicht nur einmal mitgemacht. Ihnen gehört ein Fachbetrieb in Bad Oldesloe. Vom Handwerk her ist die Firma eine Dachdeckerei, aber tatsächlich haben sich die Gienckes schon vor Jahren auf energetische Sanierungen und die Installation von Photovoltaikanlagen spezialisiert. Sie seien diejenigen, die die Energiewende umsetzten, sagen die Gienckes.

Claus Madsen ist seit Sommer 2022 Minister für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus in Schleswig-Holstein.
Claus Madsen ist seit Sommer 2022 Minister für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus in Schleswig-Holstein. © picture alliance/dpa | Marcus Brandt

26 Leute beschäftigt die Firma, Menschen aus sechs Nationen. Mit jedem eingestellten Flüchtling hat die Firma enormen Aufwand betrieben. „Wir sprechen und verhandeln mit diversen Ämtern über Sprachkurse, Arbeitserlaubnisse, Aufenthaltserlaubnisse, Anerkennung der Abschlüsse, Eingliederungshilfen. Wir helfen, wir begleiten sie zu Behörden, wir schalten Anwälte ein“, sagt Frau Block-Giencke. Nicht jeder Betrieb kann das und hat die Zeit und Geduld dafür.

Erst die Ausbildung, dann die Anerkennung

So beschäftigen die Gienckes einen Flüchtling aus Tadschikistan. Der jobbte erst als Helfer, hat sich dann hochgearbeitet. Nach einem Jahr hat die Firma ihn als Photovoltaikmonteur eingestellt. Plötzlich meldete sich die Ausländerbehörde, drohte mit Abschiebung. „Wir sind gemeinsam dagegen angegangen. Am Ende beharrte die Behörde darauf, dass unser Arbeiter erst eine Ausbildung macht. Nur: Es gibt gar keine direkte Ausbildung zum Photovoltaikmonteur. Wir haben uns für den Mann verbürgt, dass er den Job beherrscht. Alles umsonst“, sagt der Firmenchef. Sein Angestellter muss also erst eine Ausbildung zum Dachdecker machen, um der Abschiebung zu entgehen. Jetzt lernt er Dinge, die er vermutlich nie brauchen wird als PV-Monteur. „Zumindest ist sein Aufenthaltstitel sicher. Ohne die Ausbildung hätte man ihn abgeschoben – trotz gültigen Arbeitsvertrags und obwohl er keine staatlichen Leistungen bezogen hat. Er hatte eine eigene Wohnung, und er hat sich seinen Unterhalt verdient“, sagt Martin Giencke.

Sein Unternehmen profitiert von der Energiewende. Weg von Kohle und Gas, hin zu regenerativer Energieversorgung – das treiben Bund und Länder voran, das finanzieren sie über zum Teil hohe Zuschüsse mit. Nur welche Stelle welche Fördermittel unter welchen Bedingungen zu welchem Zeitpunkt zahlt, zum Beispiel beim Bau einer PV-Anlage mit Wallbox oder Schnellladestation – das ändert sich ständig. „Die Anträge und Fristen sind oft kaum zu durchschauen und oft auch nicht einzuhalten“, sagt Claudia Block-Giencke. „Der Staat macht sehr viel, aber vieles ist deutlich zu kompliziert. Daran scheitern Menschen, die einen Antrag stellen, und auch Handwerksbetriebe..“

Warum viele Fördergelder ungenutzt liegen bleiben

In den vergangenen Jahren seien viele Fördermittel ungenutzt liegen geblieben. Block-Giencke wundert das nicht. Aktuell will das Unternehmen seine Wallboxen um eine Schnellladesäule ergänzen und mehr als 100.000 Euro investieren. „Seit mehr als einem Jahr versuche ich, mit der Stadt eine Lösung zu finden, um zwei E-Parkplätze auszuweisen, an denen auch Nicht-Kunden ihr Auto aufladen können. Bislang bin ich damit nicht weitergekommen. Die Antwort aus dem Amt lautet: ,Das haben wir noch nie genehmigt.‘“ Die Energiewende drohe daran zu scheitern, dass niemand in der Verwaltung Verantwortung übernehmen wolle, sagt Frau Block-Giencke. „Wie wollen wir die Energiewende und die Ladeinfrastruktur schaffen, wenn schon das nicht funktioniert? Irgendwann gibt man dann entnervt auf.“

Gibt Ralf Stamer, der Zimmerermeister, ein Angebot beispielsweise bei der Stadt Hamburg ab, muss er erst einmal an die 20 Formulare ausfüllen. Dazu zählt die Verpflichtungserklärung, Mindestlohn zu zahlen, dazu zählen Materialverpflichtungen, Kalkulationslisten und vieles mehr. Zwischen einer und zweieinhalb Stunden braucht er, um die Formulare rechtskräftig und sicher auszufüllen. Macht er einen Fehler, fliegt er aus dem Bewerbungsverfahren.

Bürokratie – aus Misstrauen gegenüber Unternehmern?

Zumindest ein Teil der Bürokratie existiert nur aus Misstrauen gegenüber den Unternehmern und dem Bedürfnis nach Kontrolle. Davon ist Kammer-Präsident Stamer überzeugt. Seine Forderung: „Es muss wieder mehr Eigenverantwortung den Betrieben zurückgegeben werden.“ Jede einzelne Vorschrift möge ihre Berechtigung haben, aber in der Summe seien es viel zu viele, sagen die Gienckes. „Das ist auch ein Grund, warum sich heute so wenige Handwerker selbstständig machen. Wenn Sie in der Meisterschule fragen, wird noch nicht einmal die Hälfte sagen, dass sie einen eigenen Betrieb haben will. Das Risiko ist zu groß, die Arbeitsbelastung zu viel, und der Papierkram schreckt viele junge Menschen ab“, sagt Martin Giencke.

Davor warnt auch Kammerpräsident Ralf Stamer. „Wir haben ungefähr 5000 Betriebe, die in den nächsten Jahren zur Übernahme anstehen. Der Anteil derer, die nicht übernommen oder weitergeführt werden, wächst. Das liegt auch an der Bürokratie, die viele junge Handwerker abschreckt.“

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Dass Wirtschaftsminister Claus Madsen die Entbürokratisierung vorantreiben will, begrüßen sie in den Interessenvertretungen der Wirtschaft sehr. „Aber ich weiß nicht, ob er die Kraft hat, sich durchzusetzen, und ob die Zeit einer Wahlperiode reicht, weiß ich auch nicht. Eigentlich bräuchte es dafür zehn oder sogar 15 Jahre. Aber wir wünschen ihm Erfolg“, sagt Kammer-Chef Ralf Stamer.