Landkreis Harburg. Neue, bisher unbekannte Fälle in der Lüneburger Heide. Wildtierexperte und Wolfsberater befürchten mehr Wolfsangriffe auf Weidetiere.
Wann gibt es die nächste Wolfsattacke? Diese Frage treibt die Menschen im Landkreis Harburg ebenso um wie im Nachbarkreis Stade. Besonders die Tierhalter sind in großer Sorge, nachdem in den vergangenen Wochen in der Region insgesamt mehr als 100 Weidetiere von Wölfen getötet wurden. Dass die Beutegreifer demnächst wieder zuschlagen werden, gilt bei Experten als sicher. Und die Lage dürfte sich noch verschärfen: „In diesem Winter sehe ich sehr große Probleme auf uns zukommen“, sagt Wolfsberater Michael Ohlhoff. „Mir graut davor, denn ich befürchte, dass es weitere Rudel gibt, die nicht im Wolfsmonitoring sind und über die ich die Menschen folglich nicht informieren kann.“
Weitere Wolfsattacken in der Lüneburger Heide, von denen bisher nichts bekannt wurde
Auch bei der Herbstveranstaltung der Jägerschaft im Landkreis Harburg in Nenndorf stand das Thema Wolf im Vordergrund. Zumal am Rande der Veranstaltung bekannt wurde, dass es vor und nach dem schlagzeilenträchtigen Wolfsangriff auf eine Schafherde in Döhle am 17. September mit 25 toten Tieren im Landkreis Harburg weitere Attacke auf Nutztiere in der Nähe gegeben hat: Zwei Tage später griffen Wölfe in Inzmühlen eine Schafherde an, 27 Schafe wurden dabei getötet, 13 verletzt. Bereits fünf Tage vor den Rissen in Döhle waren außerdem zwei Schafe in Hanstedt gerissen worden.
„Risse könnten verhindert werden, wenn wir noch mehr Daten über Wolfsvorkommen hätten“, sagte Professor Dr. Klaus Hackländer, der vor rund 400 Gästen der Kreis-Jägerschaft im Gasthaus Böttcher über die Herausforderungen und Lösungen im Umgang mit dem Wolf in der Kulturlandschaft sprach. Zwar sei das niedersächsische Wolfsmonitoring, das die Landesjägerschaft Niedersachsen koordiniert, eines der besten überhaupt, und die Jägerschaft im Landkreis Harburg beteilige sich daran vorbildlich. Doch trotzdem gebe es Lücken. „Nur mit den entsprechenden Daten können wir die Tierhalter vorwarnen und haben mehr Überzeugungskraft in Richtung Politik“, so Hackländer, Professor der Wildbiologie und Jagdwirtschaft an der Universität für Bodenkultur in Wien und Vorstand der Deutschen Wildtierstiftung.
Fälle im Landkreis Stade hätten möglicherweise verhindert werden können
„Zumindest die Risse in Stade hätten möglicherweise verhindert werden können, wenn es mehr Daten aus den Revieren des Landkreises gegeben hätte“, sagte Wolfsberater Ohlhoff im Anschluss im Gespräch mit dem Abendblatt. „Das ist ja schon in ganz Niedersachsen aufgefallen, dass es überall Wolfsterritorien gibt, nur im Landkreis Stade nicht.“ Ohlhoff, der für beide Landkreise sowie für Osterholz, Wesermarsch, Cuxhaven und Uelzen zuständig ist, hat gerade ein neues Rudel mit fünf Welpen in Oldenburg im Landkreis Stade bestätigt, das es dort nach seiner Meinung schon länger gibt, aber von der Jägerschaft im Kreis Stade nicht gemeldet wurde.
„Da wir auf den Kameras fünf Welpen haben, muss dieses Rudel dort seit mindestens 1,5 Jahren resident sein. Welpen gibt es nur bei residenten Wölfen, die ihr Territorium ,abgesteckt‘ haben, ohne Territorium gibt es keinen Nachwuchs“, so Ohlhoff. Warum das neue Rudel den Jägern vor Ort nicht aufgefallen sein sollte – darüber lässt sich nur spekulieren. Die Jägerschaft in Stade verweist in diesem Zusammenhang auf ein Gebiet, das nicht bejagt werden dürfe, das aber nur einen Teil des neuen Wolfsterritorium ausmacht. „Niemals gibt es Welpen ohne Territorium und ein Wolfsterritorium ist in unseren Breiten zwischen 200 und 350 Quadratkilometer groß“, so Ohlhoff.
Scheu vor Wolfstourismus könnte ein Grund dafür sein, ein Wolfsvorkommen nicht zu melden
Wenn ein Rudel nicht registriert ist, fällt es auch nicht auf, wenn es nicht mehr da ist. Auch die Scheu vor Wolfstourismus könnte ein Grund dafür sein, ein Wolfsvorkommen nicht zu melden. Doch die möglichen Folgen wurden in Gräpel sichtbar: „Die Nutztierhalter waren deshalb nicht darüber informiert, dass es in ihrer Nähe möglicherweise bereits seit zwei Jahren ein Wolfsrudel gibt. Tierhalter, die so etwas wissen, sind meistens doppelt so vorsichtig, kontrollieren die Zäune oder kümmern sich um weitere Schutzmaßnahmen“, so Ohlhoff. Allerdings konnte das offenbar gute Monitoring der Jäger im Landkreis Harburg die jüngsten Wolfsattacken in der Lüneburger Heide auch nicht verhindern.
„Ohne die Anwesenheit von Menschen wird der Herdenschutz bald nicht mehr gehen“
Dennoch warb auch Wildbiologe Hackländer in Nenndorf dafür, weiterhin tatkräftig Daten zu liefern. Vor allem aber hält er eine allgemeine Verbesserung des Herdenschutzes als Präventionsmaßnahme und Reaktion auf die stark anwachsende Wolfspopulation in Niedersachsen für unabdingbar für eine friedliche Co-Existenz zwischen Wolf, Herde und Mensch. „Das ist neben der Bejagung ein sehr wichtiger Baustein“, so Hackländer. Als bestes Mittel zum Schutz der Nutztiere vor Wölfen bezeichnete er hohe Elektrozäune und Schutzhunde, die allein durch ihre Größe Wölfe von den Herden fernhielten. Durch diese Maßnahmen lasse sich die Zahl der Wolfsrisse um 90 Prozent senken, so Hackländer. Neben Elektrozäunen, Herdenschutzhunden und der Einstallung über Nacht brauche es aber vor allem den Menschen: „Der Herdenschutz wird nicht mehr gehen ohne die Anwesenheit eines Hirten“, so Hackländer. Auf jeden Fall würden Wölfe hohe Kosten für die Bauern und den Staat verursachen, entweder für Ausgleichszahlungen oder für Schutzmaßnahmen.
Er plädierte angesichts des aus seiner Sicht guten Erhaltungszustands des Wolfes für eine regulierte Bejagung: „Der Wolf muss scheu bleiben. Aber eine Bejagung wird nichts daran ändern, dass der Wolf in Deutschland längst eine Realität ist und es auch bleiben wird“, so Hackländer: „Ist der eine weg, kommt der nächste mit Sicherheit nach.“ Eine Bejagung könne lediglich zu einem langsameren Wachstum der Population führen. Im Moment gebe es in Niedersachsen jedes dritte Jahr eine Verdoppelung des Bestandes – solange, bis die „Lebensraumkapazität“ erreicht sei. „Spätestens 2030 sind die günstigen Lebensräume in Niedersachsen besetzt und junge Wölfe werden in suboptimale Lebensräume wie Siedlungen abwandern. Die Probleme werden immer schärfer.“
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Dass es in allein in Niedersachsen mittlerweile mehr als 500 Wölfe gebe, sei aus naturwissenschaftlicher Sicht ein Erfolg, werde aber zunehmend zu Konflikten mit dem Menschen führen und zwangsläufig zu einem „Systemwechsel in der Kulturlandschaft“. „Der Wolf ist gekommen, um zu bleiben. Darauf werden wir uns einstellen müssen und das wird Veränderungen in vielen Bereichen mit sich bringen – nicht nur bei der Tierhaltung, Landwirtschaft oder der Jagd, sondern beispielsweise auch im Tourismus und Freizeitverhalten.“ Die Politik müsse handeln: „Sie muss mehr Herdenschutz finanzieren und gleichzeitig die Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen zur Bejagung der Wölfe bewirken“, so Hackländer, der als mögliche Vorbilder die Regulierung des Wolfsbestands nach Obergrenzen in Schweden und Frankreich nannte.