Berlin/Kiel. Granaten, Minen und Torpedos verrotten am Meeresgrund. Seit Jahren warnen Wissenschaftler. Jetzt reagiert der Bund.

Auf diese Nachricht haben die Menschen an der deutschen Ostseeküste seit vielen Jahren gewartet: Im kommenden Jahr startet endlich die systematische Bergung von in der Ostsee verrottender Weltkriegsmunition. Das teilte das zuständige Bundesumweltministerium mit.

Der Bund stellt insgesamt 100 Millionen Euro für ein zweijähriges Pilotprojekt an drei Orten in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern (vor Haffkrug, Pelzerhaken und Boltenhagen) zur Verfügung. In diesen drei Gebieten wissen die Entsorgungsspezialisten in etwa, was sie in welcher Tiefe an Granaten, Patronen, Minen, Torpedos und Sprengfallen erwartet.

Ostsee: „Tickende Zeitbombe“ – Bergung der Weltkriegsmunition startet

Das Problem ist seit vielen Jahren bekannt, nur wurde es genauso lange ignoriert. Experten sprechen längst von einer „tickenden Zeitbombe“: Auf dem Boden von Nord- und Ostsee lagern allein vor der deutschen Küste bis zu 1,6 Millionen Tonnen konventionelle Munition, das meiste davon in der Nordsee.

„Wir gehen von rund 100.000 Tonnen Munition aus, die in der Ostsee vor der schleswig-holsteinischen Küste liegen“, sagte Alexander Bach, Referent in der „Sonderstelle Munition im Meer, Sedimentmanagement und Schadstoffbekämpfung“ des Kieler Umweltministeriums dem Abendblatt im Sommer.

Allein vor der schleswig-holsteinischen Ostseeküste liegen rund 100.000 Tonnen Munition

Mit jedem Tag, der ins Land geht, ohne dass die Munition geborgen wird, steigt die Gefahr. Denn laut Bundesumweltministerium liegen darüber hinaus auch noch rund 170.000 Tonnen chemische Kampfstoffe in der Nordsee sowie 42.000 bis 65.000 Tonnen am Boden der Ostsee. Angesichts dieser Dimensionen gilt die Bergung als Generationenprojekt.

Die Munition aus dem Zweiten Weltkrieg rottet vor sich hin. Je länger die alten Granaten und Bomben im Wasser liegen, desto größer wird die Gefahr einer ungewollten Detonation. Denn die schützenden Metallhüllen verrosten, zudem wird der Sprengstoff schlagempfindlicher. Das nächste Problem: Durch Korrosion werden Schadstoffe freigesetzt. Das Umweltbundesamt warnt in einer Untersuchung zu den Inhaltsstoffen „insbesondere vor TNT und seinen Metaboliten“. Die seien „giftig, krebserzeugend und/oder erbgutverändernd“.

Schadstoffe in Muscheln und in Fischen

Immer wieder ziehen auch Fischer alte Munition mit teilweise geöffneten Hüllen in ihren Netzen nach oben. „Die verstreute Munition ist ein Risiko auch für die Schifffahrt, die Fischerei und den Tourismus“, heißt es dazu aus dem Bundesumweltministerium. Und weiter: „Sprengstofftypische und andere Schadstoffe daraus sind in marinen Ökosystemen, in Fischen und Muscheln nachweisbar und können in unsere Nahrungskette gelangen.

Phase 1 des Pilotprojekts startet im kommenden Jahr. Dabei sollen Spezialfirmen die Munition noch auf herkömmliche Art bergen. Dabei werden die Granaten oder Minen von einem Bagger oder einer Unterwasserraupe gehoben und dann entsorgt. Diese Phase dient zugleich der Erkundung: Wie marode sind die Sprengkörper? Wie lassen sie sich bergen? Wie viele Munitionsteile lassen sich auf einmal vom Grund der Ostsee heben? Wie stark verklumpt und verklebt sind Granaten oder Minen, die auf einem Haufen liegen?

Eine Plattform soll voll automatisiert arbeiten

„Bislang hat sich niemand getraut, diese Haufen auseinanderzufügen. Es ist wichtig, das jetzt zu lernen und zu nutzen“, sagte Alexander Bach kürzlich dem Abendblatt. „Wir wollen vermeiden, Taucher runterzuschicken, weil das eine große Gefährdung für sie darstellen würde. Deswegen wollen wir den höchstmöglichen Technologisierungsgrad und möglichst ferngesteuert arbeiten.“

Die Erkenntnisse aus Bergungsphase 1 fließen dann ein in die Planung und den Bau einer voll automatisiert arbeitenden Bergungsplattform. Die soll in der zweiten Jahreshälfte 2025 an den Start gehen. Die Dimension dieser Plattform richtet sich danach, wie viel Munition in welchem Zeitraum in der beschriebenen ersten Phase pro Tag nach oben geholt werden kann. So soll verhindert werden, dass die Plattform zu groß oder zu klein dimensioniert wurde.

Munitionsbergung gilt als Generationenprojekt

Laut Bundesumweltministerin Steffi Lemke von den Grünen ist es höchste Zeit, mit der Bergung zu starten. „Die verrottende Munition am Meeresgrund ist eine große Gefahr für die Meeresumwelt, für Tourismus, Fischerei und Schifffahrt. Sie muss dringend beseitigt werden. Mit dem Sofortprogramm Munitionsräumung haben wir endlich den Anschub geleistet, dieses Problem anzugehen.“

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Für Schleswig-Holsteins Umweltminister Tobias Goldschmidt, wie Lemke Mitglied der Grünen, beginnt jetzt „das Zeitalter des Handelns“. Er sprach am Donnerstag von einem Meilenstein bei der Bewältigung einer Generationenaufgabe und einem „wichtigen Baustein beim Schutz unserer kranken Meere“.

Wie lange es dauert, die 100.000 Tonnen Sprengkörper aus der Ostsee zu bergen, kann niemand seriös sagen. „Aber wir werden das mit Sicherheit nicht mit einer einzigen Plattform hinbekommen. Das wird zu wenig sein, um zügig voranzukommen“, hatte Goldschmidt dem Abendblatt im Sommer gesagt.

Sie freue sich, dass man nun nicht mehr nur über die Bergung rede, sondern dass endlich gehandelt werde, kommentierte CDU-Umweltexpertin Cornelia Schmachtenberg die Mitteilung aus dem Bundesumweltministerium. „Wermutstropfen ist jedoch, dass sich der Bund bei dieser historischen Herausforderung zu viel Zeit gelassen hat, selbst gesetzte Fristen nicht eingehalten hat, und wir bei der Erprobung und der Bergung schon viel weiter sein könnten. Der Bund muss jetzt endlich schneller und entschlossener seiner Aufgabe nachkommen und auch die konkrete Bergung der Munition voranbringen“, so Schmachtenberg.