Itzehoe. Tag zwei im Brokstedt-Prozess: Eine Studentin berichtet, wie sie die Messerattacke in der Regionalbahn hautnah erlebt hat.

Dieses Grinsen. Ein bisschen „wahnhaft“ wirkte der Blick, ein Mann mit auffallend großen Augen. Und plötzlich hatte dieser Kerl ein Messer in der Hand, die Waffe noch halb verborgen in einer Tasche. Das war der Moment, in dem Johanna W. ahnte, dass es gefährlich werden könnte, der Augenblick, in dem sie die 110 in ihr Handy eintippte.

So erzählt es die 22-Jährige vor Gericht. Wenig später wurde die junge Frau Zeugin, wie der Mann mit dem Messer auf eine Jugendliche einstach, immer wieder. Es ist der zweite Tag im Prozess um die „Messerattacke von Brokstedt“ oder „die Bluttat in der Regionalbahn“, jenem Verbrechen, das Anfang des Jahres die Republik erschütterte. Zwei junge Menschen kamen ums Leben, vier weitere wurden schwer verletzt. Dem Angeklagten Ibrahim A. wird unter anderem zweifacher Mord sowie versuchter Mord in vier Fällen vorgeworfen.

Brokstedt-Prozess: Motiv soll Frustbewältigung gewesen sein

Die Tatwaffe laut Anklage: ein Fleischermesser mit 20 Zentimeter Klinge, das Ibrahim A. zuvor in einem Kieler Supermarkt gestohlen habe. Das Motiv soll Frustbewältigung gewesen sein, weil dem mutmaßlich aus Gaza stammenden 34-Jährigen zuvor in Kiel nicht gelungen sei, eine Bescheinigung für eine weitere Duldung zu erhalten.

Durch die Schilderung dieser ersten Zeugin in dem Verfahren wird deutlich, wie der Täter an jenem 25. Januar in der Regionalbahn auf dem Weg von Kiel nach Hamburg vorging. Sie erzählt von seinem „wahnhaften Grinsen“. Wie er sein Messer wiederholt gegen die Opfer richtete, dass er die 17-Jährige, die wohl zufällig mit dem Mann im Abteil saß, von hinten packte, sie so drehte, dass sie mit dem Gesicht zu ihm stand. „Sie hat einmal kurz geschrien“, erinnert sich Johanna W. „Dann fing er an, von oben auf sie einzustechen.“

Angeklagte der Messerattacke streitet Anschuldigungen zum Prozessauftakt ab

Gelegentlich streift der Blick des Angeklagten die Zeugin. Doch meist starrt Ibrahim A. vor sich hin, ein schmaler, bärtiger Mann, der vor Prozessbeginn von zwei Wachleuten der „Mobilen Einsatzgruppe“ der Justiz in den Saal geführt wurde, seine Füße und Hände in Fesseln, die ihm auch während der Verhandlung nicht abgenommen werden. Die beiden Wachleute sitzen dicht hinter ihm, lassen ihn nicht aus den Augen.

Der 34-Jährige hatte kurz nach der Tat die ihm zur Last gelegten Handlungen im Wesentlichen eingeräumt und laut seinem Verteidiger Björn Seelbach seinerzeit beteuert, dass ihm das „Geschehene schrecklich leidtut“. Zum Prozessauftakt hatte der Angeklagte indes gesagt, dass er unschuldig sei. „Die Anschuldigungen stimmen nicht.“ Allerdings sei es richtig, dass er damals mit im Zug gesessen habe.

„Achtung, der Mann hat ein Messer“ – Zeugin über die Bluttat

Das bestätigt auch die Zeugin Johanna W., die vor Gericht sagt, sie erkenne in dem Angeklagten jenen Mann wieder, den sie seinerzeit beobachtet hatte. Er sei ihr aufgefallen, weil er „unruhig“ gewesen sei, seine Blässe. Er habe „Ausfallschritte und Dehnübungen“ gemacht und schließlich so im Gang gestanden, dass er ihr den Weg versperrte, als sie zum Ausgang hatte gehen wollen. Also entschloss sich die Studentin umzukehren. In diesem Moment, so schildert es die Zeugin, habe sie eine Reisetasche gesehen, die offensichtlich zu dem Mann gehörte, und darin ein Küchenmesser, um dessen Griff der Mann seine Hand geschlossen habe.

Johanna W. hatte gerade die Notrufnummer der Polizei in ihr Handy getippt, als sie den Warnruf eines anderen Fahrgastes hörte: „Achtung, der Mann hat ein Messer!“ „Da ging es los.“ Die Stiche gegen die Jugendliche und dann gegen einen Mann, der versucht hatte, sich zwischen den Angreifer und das Opfer zu stellen. Die Zeugin spricht von einer „Massenpanik“, die dann eingesetzt habe.

„Die Leute rannten los. Es war ein absolutes Chaos.“ Die meisten hätten versucht, aus dem Zug und auf den Bahnsteig zu gelangen. Auch Johanna W. stieg aus. Irgendjemand habe das Messer, das mittlerweile im Zug auf dem Boden lag, in einen Mülleimer geworfen.

Tag zwei im Brokstedt-Prozess: Studentin berichtet detailliert von Messerattacke

Die 22-Jährige erinnert sich an eine grauhaarige Frau, deren Gesicht „blutüberströmt“ gewesen sei und bei der die Studentin Erste Hilfe leistete. Auch einen weiteren Mann mit einer Verletzung an der Stirn sah sie und kümmerte sich um das blutende Opfer. Die Zeugin erzählt schließlich von Lärm, der aus dem Zug zu hören gewesen sei.

Der Angreifer, mittlerweile ohne Messer, sei ausgestiegen. „Er wurde dann aufgehalten, erst von einem Mann, dann kamen weitere hinzu.“ Der Mann, der eben noch wie wild auf die Opfer eingestochen hatte, habe nicht mehr viel Widerstand gezeigt. „Die Augen waren nicht mehr so aufgerissen. Er hat vor sich hingestarrt.“

Bis ins kleinste Detail hat die Zeugin ihre Erinnerungen vor Gericht dargelegt, in ruhiger, präziser Wortwahl, als der Vorsitzende Richter Johann Lohmann sie fragt, wie es ihr nach dem Geschehen gegangen sei. „Ich konnte es erst gar nicht richtig fassen“, meint Johanna W.

Für einen Moment bricht die Stimme der 22-Jährigen

Sie sei einige Tage lang „ruhelos“ gewesen. „Leichter macht es nicht, dass ich die Familie kenne von dem Jungen, der dann verstorben ist.“ Für einen Moment bricht die Stimme der Zeugin, dann hat sie sich wieder im Griff, beantwortet weiter mit bemerkenswerter Präzision die Fragen der Prozessbeteiligten.

Den Psychiatrischen Sachverständigen, der den Prozess als Gutachter begleitet, interessiert, wieso Johanna W. das Grinsen des Mannes mit dem Messer als „wahnhaft“ bezeichnet hat. „Ich studiere in die Richtung“, erzählt die 22-Jährige. „Wir gehen gerade verschiedene Krankheitsbilder durch.“

Brokstedt-Prozess: Zeuge sieht Messer und ergreift Flucht

Auch ein zweiter Zeuge, der damals in der Regionalbahn gesessen hat, schildert an diesem Verhandlungstag, wie ihm das Verhalten eines Mitreisenden als bemerkenswert aufgefallen sei. „Er benahm sich komisch“, erzählt der 21-Jährige. Der Mann habe sein Oberteil halb abgestreift, dann wieder übergezogen, sich gegen die Sitze gelehnt. Er habe gewirkt, „als wenn er sich mental auf etwas vorbereitet“. Er habe sich damals gefragt, so der Zeuge, was er jetzt machen würde, wenn da einer plötzlich losstürmen würde.

Das Nächste, auf das der Student aufmerksam wurde, war ein Geräusch, ein Poltern, „als wenn jemand eine Treppe runterfällt“. Dann habe er hochgeschaut und ein Messer gesehen sowie „das Zustechen auf eine Person“. Das Opfer habe er nicht gut sehen können, fast nur den Bereich der Beine. „Ich kann mich eher an das Messer erinnern, es hatte eine längere Klinge.“ Dann hätten mehrere andere Fahrgäste die Flucht ergriffen. Auch der 21-Jährige drehte sich um und lief.

Brokstedt-Prozess: Täter tötete 17-Jährige mit 16 Stichen

Der Vorsitzende Richter hat mehrere Nachfragen. Unter anderem, wie viele Messerstiche der Zeuge wahrgenommen habe? Es seien etwa zehn bis 15 Stiche gewesen, meint der Mann. „Jedenfalls mehr als drei.“ Es muss sehr schnell gegangen sein, die Sicht auf die Tat war eingeschränkt. Tatsächlich erlitt die 17 Jahre alte Ann-Marie 26 Stiche und Schnitte, 16 davon im Kopf- und Halsbereich. Anschließend, so heißt es in der Anklage, habe Ibrahim A. den 19-jährigen Danny getötet, der sich zwischen den Angreifer und das erste Opfer gestellt habe. Danny wollte seine Freundin retten.

Wie das junge Paar sind auch die anderen vier Menschen, die durch weitere Messerstiche schwer verletzt wurden, der Staatsanwaltschaft zufolge Zufallsopfer gewesen. Sie haben unter anderem schwerste Verletzungen im Gesicht erlitten. Dazu heißt es in der Anklage: „Ibrahim A. hat nicht wehrhafte Fahrgäste in einer absoluten Alltagssituation getötet, misshandelt und dauerhaft entstellt.“ Der Prozess wird an diesem Mittwoch fortgesetzt.