Kiel. Im Interview: Wie Kerstin von der Decken, seit Sommer Gesundheits- und Justizministerin in Schleswig-Holstein, die Lage einschätzt.

Ihr Name war die große Überraschung, als Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther sein neues Kabinett vorstellte und Kerstin von der Decken zur Justiz- und Gesundheitsministerin machte. Für die 53-Jährige bedeutet das: Regierungsbank statt Hörsaal.

Die Juristin, gebürtig aus Hamburg, aufgewachsen in Mexiko, zum Studium in Bonn, Trier und Aix-en-Provence, hatte elf Jahre an der Kieler Christians-Albrechts-Universität öffentliches Recht unterrichtet. Statt Studenten das Funktionieren des Staates oder eine Werteordnung zu vermitteln, muss sie sich jetzt – unter anderem – mit der Pandemie, Finanzierungsproblemen der Kliniken oder dem Arztmangel auf dem Land herumschlagen.

Hamburger Abendblatt: Frau von der Decken, warum haben Sie den Job als Professorin gegen den der Ministerin eingetauscht?

Kerstin von der Decken: Aus bürgerschaftlichem Engagement und Verpflichtung. Jede Bürgerin und jeder Bürger sollte etwas für die Menschen im Land tun. Als mir diese Möglichkeit eröffnet wurde, habe ich gedacht: Das kommt völlig unerwartet, ist aber eine unglaublich gute Art, wie ich mich für die Menschen und für das Land einbringen kann.

Jetzt blicken Sie auf gut 100 Tage als Ministerin zurück. Haben Sie es schon einmal bereut, das Jobangebot von Daniel Günther angenommen zu haben?

von der Decken: Nein, in keinem Augenblick.

Immerhin steht Ihr Staatssekretär Otto Carstens massiv in der Kritik als jemand, der plagiiert haben soll bei seiner Doktorarbeit und der sich in stramm rechten studentischen Verbindungen herumgeschlagen hat. Mit dem Ärger von dieser Seite hatten Sie bei Amtsantritt wohl nicht gerechnet.

von der Decken: Was die Dissertation von Herrn Carstens betrifft, so hat er ja selbst das Überprüfungsverfahren an der Universität Innsbruck in Gang gesetzt. Das läuft und bleibt abzuwarten. Zu den anderen Vorwürfen hat sich Herr Carstens mittlerweile mehrfach ausführlich auch im Innen- und Rechtsausschuss geäußert. Ich glaube, damit ist alles zu diesem Thema gesagt.

Das heißt, Sie haben mit seiner Mitgliedschaft in schlagenden Verbindungen kein Problem als seine Vorgesetzte?

von der Decken: Es geht nicht darum, was ich davon halte. Er hat dazu alles gesagt, was zu sagen ist, und ich muss dem nichts hinzufügen.

Wechseln wir das Thema. Ihr Ministerium ist zusammengestückelt worden. Keine Partei scheint sich um die Justiz wirklich gerissen zu haben, und die Grünen wollten mit der Übernahme des Sozialministeriums partout auch die Zuständigkeit für Kliniken und Corona loswerden. Haben Sie das bekommen, was sonst keiner wollte?

von der Decken: (Lacht) Ich war bei den Koalitionsverhandlungen nicht dabei, insofern weiß ich nicht, wie es zu diesem Zuschnitt kam. Aus meiner Perspektive kann ich sagen, dass für mich diese beiden Ressorts ganz entscheidend sind für das Wohlergehen und für das Funktionieren unserer Gesellschaft. Wir brauchen ein funktionierendes Justizsystem, damit der Bürger Vertrauen in den Rechtsstaat hat und damit auch alle Rechte und Ansprüche richtig durchgesetzt werden können. Und wir brauchen ein funktionierendes Gesundheitssystem. Beide Bereiche sind absolut wichtig, damit der Staat in den Grundfesten gut dasteht und funktioniert. Also: Für mich ist es super so.

In diesem Gespräch konzentrieren wir uns auf das Thema Gesundheit. Die Infektionszahlen steigen rasant, die Belastungen der Kliniken durch Covid-Patienten und durch an Corona erkrankte Mitarbeitende ebenfalls. Droht uns der dritte schwere Pandemie-Herbst in Folge?

von der Decken: Nach unserer Einschätzung nicht. Wir stehen in ständigem Austausch mit Kliniken und Experten, sammeln kontinuierlich Daten und werten sie aus. Was wir ablesen, ist: Der heutige Corona-Herbst ist nicht zu vergleichen mit dem im vergangenen Jahr. Wir haben sehr hohe Impfquoten und gute Medikamente. Es gibt den neuen, angepassten Impfstoff. Und wir haben durch die sehr hohe Zahl an Geimpften und Genesenen eine hohe Grundimmunisierung der Bevölkerung. Die aktuelle Variante ist deutlich ansteckender, aber wegen der Grundimmunisierung und wegen der Mutation des Virus weniger gefährlich. Ich will das nicht verharmlosen. Aber die Zahl der beatmeten Patienten, die Zahl der ganz schweren und tödlichen Verläufe ist deutlich zurückgegangen im Vergleich zum letzten Herbst, obwohl die Zahlen ansteigen.

Der Hamburger Bürgermeister hat es so formuliert: Die Pandemie habe mit dieser Entwicklung auch ein Stück weit ihren Schrecken verloren.

von der Decken: Aber man sollte immer noch Respekt davor haben. Deswegen appellieren wir ja immer wieder an die Bevölkerung, die Impfangebote anzunehmen, nicht nur gegen Corona, sondern jetzt auch gegen Grippe. Wir appellieren, Hygienemaßnahmen einzuhalten, Abstand zu wahren oder in größeren Menschenmengen auch gerne eine Maske zu tragen.

Die Landesregierung hat ihre Corona-Politik unter das Motto gestellt: „So viel Normalität wie möglich, so viel Schutz wie nötig“. Wie viel Normalität können Sie den Menschen in den nächsten Monaten versprechen?

von der Decken: Ich kann kein konkretes Ausmaß an Normalität versprechen, weil ich nicht in die Zukunft schauen kann. Was ich versprechen kann, ist, dass wir täglich die Daten auswerten, im kontinuierlichen Austausch mit Kliniken und mit Experten stehen und genau beobachten, was passiert, um genau das zu gewährleisten. Wir möchten so viel Normalität wie möglich, aber Schutz, wo er nötig ist. Das betrifft natürlich insbesondere die vulnerablen Gruppen.

Erst hat die Pandemie die Kliniken massiv unter Druck gesetzt, jetzt sind es die explodierenden Energiepreise und die Inflation. Die Krankenhäuser haben deshalb die „Alarmstufe Rot“ ausgerufen. Brauchen die Kliniken in Schleswig Holstein bald einen Rettungsschirm, unter den sie kommen?

von der Decken: Die deutschen Kliniken machen darauf aufmerksam, dass infolge der Inflation und der gestiegenen Energiekosten ihre Liquidität nicht mehr gegeben ist. Deshalb haben wir bundesweit agiert und mit Bayern und Baden-Württemberg eine Bundesratsinitiative gestartet, der sich weitere Bundesländer angeschlossen haben. Wir fordern den Bund auf, sich dieser Liquiditätsengpässe der Krankenhäuser bundesweit anzunehmen. Bei Bedarf werden wir den Druck auf den Bund noch erhöhen.

Allein das Uniklinikum in Kiel unter Leitung des Kanzler-Bruders Jens Scholz rechnet 2022 mit Mehrausgaben zwischen 30 und 100 Millionen Euro. Neben akuter Hilfe fordern die Häuser eine Strukturreform zur Krankenhausfinanzierung, um sich dauerhaft besser aufzustellen. Wie müsste aus Ihrer Sicht diese Strukturreform aussehen?

von der Decken: Dass wir die Krankenhausstruktur in der gesamten Bundesrepublik reformieren müssen, wissen alle. Die Krankenhausinvestitionsförderung ist Ländersache. Die Finanzierung des laufenden Betriebs ist Bundessache. Und diese Krankenhaus­finanzierung auf Bundesebene muss neu gedacht werden. Aber auch wir auf Landesebene mit den begrenzten finanziellen Ressourcen müssen neu denken. In Schleswig Holstein arbeiten wir an einem neuen Krankenhausplan 2024.

Was kommt mit diesem Plan auf die Schleswig-Holsteiner zu?

von der Decken: Wir haben verschiedene Szenarien im Kopf. Ganz wichtig sind dabei auch Daten. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Wir sind dabei, eine Bedarfsanalyse zu erstellen für die Geburtskliniken. Wo finden wie viele Geburten statt, wo ist Bedarf, wo ist eine Lücke, wo existiert eine Überversorgung? Wir stehen bei der Gesundheitsversorgung aber auch vor einem ganz grundsätzlichen Problem: Als dünn besiedeltes Flächenland mit einer Bevölkerung im demografischen Wandel haben wir zunehmend mehr Menschen, die medizinische Leistungen in Anspruch nehmen werden. Und wir haben immer weniger junge Menschen, die diese Leistungen erbringen können. Das gekoppelt mit einer Medizin, die immer besser und auch teurer geworden ist. Jetzt müssen wir es schaffen, eine Grund- und Notversorgung in der Fläche sicherzustellen und eine qualitativ hochwertige Versorgung an wenigen Zentren im Land. Nicht mehr jede Klinik im Land wird alles anbieten können. Die Spezialeingriffe müssen wir versuchen, an einigen Standorten zu konzentrieren.

Der Mangel an Fachkräften in der Krankenpflege ist inzwischen so eklatant, dass bundesweit zwischen 30 und 40 Prozent der Intensivbetten leer stehen. Operationen müssen wegen Personalmangels verschoben werden, wodurch den Kliniken weitere Einnahmen verloren gehen. Wie kann ein Land dem Fachkräftemangel entgegenwirken?

von der Decken: Wir können als Land nicht das Gesamtproblem lösen. Aber wir haben einen Pakt für die Gesundheits- und Pflegeberufe ins Leben gerufen. Was machen wir damit? Wir möchten unter anderem die Ausbildung attraktiver machen. Die Attraktivität des Berufes ist nicht nur eine Frage der Bezahlung, es ist auch eine Frage der guten Ausbildung. Es ist eine Frage der Qualität der Arbeitsplätze. Es ist eine Frage auch der Flexibilität der Arbeitszeiten. Auch haben wir festgestellt, dass Fachkräfte eher aus den Kliniken abwandern, die weniger interessante Fälle behandeln.

Müssen sich die Kliniken jetzt noch stärker um ausländische Fachkräfte bemühen?

von der Decken: Das ist einer von mehreren Wegen. Wir müssen die Ausbildung und die Arbeitsplätze attraktiver machen. Wir müssen Zuwanderung organisieren. Und wir müssen die Effizienz steigern. Wir können uns nicht an jeder Stelle Kliniken leisten, die Spezialeingriffe anbieten. Diese Spezialisierungen müssen wir an einzelnen Orten konzentrieren, an denen man die zahlenmäßig geringeren Fachkräfte bündeln kann.

In der Pandemie sind den Kliniken viele Fachkräfte verloren gegangen, die sich für andere, weniger anstrengende Berufe entschieden haben. Was können Kliniken oder die Politik an den Rahmenbedingungen ändern, um diese Leute zurückzuholen?

von der Decken: Gerade im Gesundheitsbereich arbeiten Menschen, die nicht irgendeinen Job machen, sondern die mit Herz und Seele dabei sind, für die der Job wirklich eine Berufung ist. Viele von denen, die abgewandert sind, haben das aus nachvollziehbaren Gründen gemacht, teilweise aufgrund totaler Erschöpfung. Viele dieser Menschen hängen aber immer noch ihrer Berufung und ihrem Beruf nach. Ich glaube, dass man viele von denen wieder zurückbekommen kann, wenn wir die Wertschätzung verbessern. Wertschätzung ist nicht nur Geld. Es ist nicht nur Applaus von den Balkonen. Wir müssen Arbeitszeiten flexibilisieren, Arbeits- und Rahmenbedingungen verbessern, uns auf die fachliche Ebene konzentrieren und belastende Tätigkeiten, die nicht unmittelbar zum Berufsbild gehören, von jemand anderem machen lassen.

Ein immer wieder gehörter Vorwurf lautet: Wir sparen das Gesundheitssystem kaputt ...

von der Decken: Wenn Sie ins Ausland blicken, sehen Sie, dass wir immer noch eines der besten Gesundheitssysteme der Welt haben; eines der effizientesten, auf höchstem Niveau, mit verhältnismäßig geringen Kosten, die die Patientinnen und Patienten selber tragen müssen. Wir haben ein sehr gutes Gesundheitssystem, aber wir stehen vor der Herausforderung, dass wir durch den demografischen Wandel immer mehr Menschen haben, die diese Leistungen in Anspruch nehmen werden. Und wir haben immer weniger Menschen, die diese Leistungen erbringen können. Wir stehen vor wirtschaftlich schweren Zeiten und vor der Aufgabe, Krankenhausstrukturen und aber auch ambulante Versorgung neu denken zu müssen. Ich glaube nicht, dass wir etwas kaputtsparen. Aber wir müssen den Mut haben, den Gesundheitssektor neu zu denken und an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen.

Schleswig-Holstein ist teils sehr dünn besiedelt. Das wirkt sich auf die Versorgungssicherheit auf dem Land aus. Die Arztdichte nimmt weiter ab, viele Arztsitze sind nicht mehr besetzt. Je unattraktiver die Region, desto schwieriger wird es, die medizinische Versorgung sicherzustellen. Was kann das Land tun für die Versorgungssicherheit?

von der Decken: Wir müssen die Grundversorgung in der Fläche gewährleisten. Rund ein Drittel der niedergelassenen Ärzte in Schleswig-Holstein ist älter als 60, und es ist sehr schwer, diese Arztsitze an selbstständige jüngere Ärzte weiterzugeben. Eine Lösung sind daher Medizinische Versorgungszentren, getragen von Kommunen oder auch privat. Das sind Einheiten, wo die Ärztinnen und Ärzte nicht mehr selbstständig tätig werden, sondern auf Angestelltenbasis.

Arbeitgeber dieser Ärzte sind dann unter Umständen Investoren mit Renditeerwartung. Wie passt dieses Geschäftsmodell zum Auftrag eines Versorgungszentrums?

von der Decken: Wir sehen eine Gefahr, dass diese Medizinischen Versorgungszentren rein zu Renditezwecken genutzt werden. Deshalb haben auch hier eine Bundesratsinitiative gestartet und inhaltliche Vorschläge für ein Bundesgesetz gegen diese Kommerzialisierung gemacht.

Das heißt, Sie wollen Investoren nicht grundsätzlich ausschließen. Aber wie wollen Sie denn dann Missbrauch verhindern?

von der Decken: Eine Möglichkeit wäre, eine bestimmte Anzahl von unterschiedlichen Fachrichtungen in diesen Versorgungszentren vorzuschreiben. So könnte man eine Konzentration einzig auf lukrative Behandlungen verhindern.