Kiel. 480 Menschen erkennen freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht an. 26 Prozent mehr als im Vorjahr. Opposition fordert Handeln.
Die Zahl der sogenannten Reichsbürger in Schleswig-Holstein hat deutlich zugenommen. Das wurde am Donnerstag bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts deutlich. Ende des vergangenen Jahres wusste der Nachrichtendienst von 480 Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteinern, die sich dieser Szene zuordnen, die die Bundesrepublik Deutschland und ihre freiheitliche demokratische Grundordnung nicht anerkennen. Ende 2020 waren es noch 380 Menschen gewesen. Das entspricht einem Zuwachs von 26 Prozent. Unter den 480 „Reichsbürgern“ sind 15 Personen, die dem Verfassungsschutz schon als Rechtsextremisten bekannt waren.
Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) erklärte den deutlichen Anstieg mit dem staatlichen Coronamanagement. „Die Szene fasst staatliche Maßnahmen grundsätzlich als unrechtmäßige Repressalien auf“, heißt es dazu im Bericht des Geheimdienstes. Bei der Bekämpfung der Pandemie habe das Land „tief in das wirtschaftliche, gesellschaftliche und private Leben“ eingreifen müssen. Das habe dazu geführt, dass die Reichsbürger ihre Ideologie stärker in die Öffentlichkeit getragen hätten, um „insbesondere Personen aus dem Spektrum der Covid-19-Maßnahmengegner für ihre Zwecke zu rekrutieren“. Allerdings sei es dem Verfassungsschutz gelungen, das Dunkelfeld aufzuhellen.
Verfassungsschutz: Reichsbürger häufig "verbal-aggressiv und renitent"
Von den 480 „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ im Norden haben 17 einen Waffenschein. Diese 17 Schleswig-Holsteiner horten insgesamt 58 Waffen. Das sind die offiziellen Angaben. Im Verfassungsschutzbericht heißt es zudem, dass die Szene im Alltag „insbesondere gegenüber Behörden häufig verbal-aggressiv und renitent“ auftrete. Die „Reichsbürger“ haben 2021 insgesamt 40 Straftaten begangen.
Die Zahl der politisch motivierten Straftaten gegen „Amts- und Mandatsträger“ stieg 2021 um 60 Prozent auf 93. Allein 41 Polizeibeamte wurden im Dienst Opfer einer Straftat. Das entspricht einem Plus von 15 Prozent gegenüber 2020.
"Delegitimierer" werden auch in Schleswig-Holstein zum Problem
Mit Sorge beobachtet der Verfassungsschutz das Phänomen der Delegitimierung des Staates. Um mehr über diese Szene zu erfahren, hat das Amt einen eigenen Arbeitsbereich eingerichtet. Die ersten Erkenntnisse: Die Delegitimierer-Szene ist sehr gut vernetzt. Kommuniziert wird fast ausschließlich über den Messengerdienst Telegram. Hier wird zu Autokorsos, Demonstrationen und „Spaziergängen“ (gegen die Corona-Politik) aufgerufen. Anfang Dezember 2021 entstand beispielsweise der Telegramkanal „Freie Schleswig-Holsteiner“. Innerhalb kürzester Zeit hatte dieser rund 8000 Abonnenten, die sich dort zusammengeschlossen haben mit dem Ziel, den „Widerstand in Schleswig-Holstein zu bündeln“.
„Die sogenannten ,Delegitimierer‘ lehnen unsere staatlichen Institutionen ab und machen sie verächtlich, um einen Wechsel des politischen Systems herbeizuführen“, warnte die Ministerin, die den Bericht gemeinsam mit Wolfgang Klonz vom Verfassungsschutz und Henrik Greve vom LKA vorstellte.
Zahl der Rechtsextremen im Norden steigt nur leicht
1200 Frauen und Männer aus Schleswig-Holstein gehören zur rechtsextremistischen Szene im Land. Das sind um die 20 mehr als im Jahr zuvor. 350 von ihnen gelten als „gewaltorientiert“. Im Bereich des Linksextremismus sind die Zahlen nahezu unverändert: 735 Personen gehörten Ende 2021 der Szene, 340 dem „gewaltorientierten Spektrum“ an. Linksextremisten hätten sich in der Klimabewegung und gegen die Gentrifizierung engagiert. Trotz der populären Themen sei es der Szene aber „nicht gelungen, angestrebte Vernetzungen ins zivilgesellschaftliche Spektrum auszubauen“, hieß es.
Hohe Bedrohung durch Cyberangriffe
Im Kontext Islamistischer Terrorismus spricht der Verfassungsschutz von einer „konstant hohen abstrakten Gefährdungslage“. 866 Personen in Schleswig-Holstein wurden Ende 2021 dem „islamistischen Personenpotenzial“ zugerechnet. Das sind 20 mehr als vor einem Jahr. Neu ist die Beobachtung, dass salafistisch geprägte Vereine mit Spendengeldern vermehrt Immobilien im Land kaufen.
Im ersten Halbjahr 2022 beobachtete der Verfassungsschutz eine weiter zunehmende Bedrohung durch die Delegitimiererszene. Durch den Krieg Russlands in der Ukraine gebe es zudem „insbesondere im Bereich der kritischen Infrastruktur eine abstrakt hohe Bedrohung durch möglicherweise auch staatlich gesteuerte Cyberangriffe“, sagte die CDU-Politikerin. Der Verfassungsschutz habe deshalb frühzeitig begonnen, Wirtschaft und Forschungseinrichtungen über die Gefahren von Cyberangriffen aufzuklären.
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Dem Innenexperten der FDP, Bernd Buchholz, reichen die, wie er sagte, „blumigen Aussagen der Innenministerin zur Verbesserung der Ausstattung des Verfassungsschutzes“ nicht aus. „Wir erwarten anhand von Zahlen, Daten und Fakten konkrete Angaben darüber, wie, womit und wann die Innenministerin diese für die Stärkung des Verfassungsschutzes formulierten Ziele angehen und erreichen will.“
Laut Kai Dolgner von der SPD ist es richtig, dass die Ministerin auf die „wachsenden Bedrohungen für unsere Demokratie, unsere kritische Infrastruktur und die Mandats- und Amtsträger/-innen hinweist“. Er vermisst allerdings konkrete Angaben zum im „Koalitionsvertrag versprochenen Stellenaufwuchs“. Auch hier zeige sich „die eklatante Schwäche der neuen Landesregierung: Man bleibt bei der Analyse und vagen Ankündigungen stehen.“