Kiel. Mit digitaler Hilfe sollen Besucherströme an Küsten entzerrt werden. Vorreiter ist die Lübecker Bucht. Wie das Projekt funktioniert.

Volle Wanderwege, belegte Parkplätze, Warteschlangen und Strände, an denen die Besucher dicht an dicht im Sand hocken: So sieht es im Hochsommer oft an der Küste aus. Das bedeutet Stau auf den Autobahnen und Menschenmassen an den beliebten touristischen Orten an Nord- und Ostsee. Die Corona-Pandemie hat diese Überlastung noch verschärft. Um Besucher nicht durch Verbote und Beschränkungen zu frustrieren, soll künstliche Intelligenz (KI) in Zukunft die Besucherströme an den Küsten entzerren und lenken.

„Wir wollen den Gästen Alternativen zeigen, wo sie hinkönnen, wenn das ursprüngliche Ziel bereits voll ist“, sagt Paul Stellmacher. Der Online-Marketing-Leiter und Vizevorstand der Tourismus-Agentur Lübecker Bucht nimmt an dem bundesweiten Projekt mit dem englischen Namen AIR teil (kurz für AI-basierter Recommender für nachhaltigen Tourismus. Zur Erklärung: AI ist Englisch für „artificial intelligence“ und bedeutet „künstliche Intelligenz“, „recommend“ bedeutet „empfehlen“).

Nord- und Ostsee: Strandticker lenkt Besucherströme

Paul Stellmacher stellt für das Projekt Daten und Erfahrungen bereit, die der Touristiker mit dem Strandticker gemacht hat. Denn der Wirtschaftsinformatiker ist ein echter Pionier und hatte bereits vor der Pandemie damit begonnen, ein System zu entwickeln, das Besucherströme lenkt. Für den Strandticker hatte der 43-Jährige einen zweiten Platz beim Deutschen Tourismuspreis gewonnen. Der Strandticker gibt unter anderem Informationen zur Auslastung an den Ostseestränden zwischen Timmendorfer Strand und Neustadt in Holstein.

„AIR gibt uns die Chance, das sich bereits in Betrieb befindliche System zum Besuchermanagement wissenschaftlich fundiert weiterzuentwickeln. Gleichzeitig freuen wir uns, unsere bisherigen Erfahrungen umfassend einbringen zu können, um so einen signifikanten Beitrag für mehr Urlaubsqualität im ganzen Land zu leisten“, so Stellmacher.

„Es geht hier nicht um Verbote oder Zwänge"

In dem bundesweiten Verbund von Touristikern und Forschenden wird nun untersucht, wie ein digitales Besuchermanagement gestaltet werden muss, um Besucher frühzeitig mit geeigneten Informationen über die aktuelle oder zu erwartende Auslastung am gewünschten Ausflugsort zu versorgen. Das Ziel: Intelligente Lösungen sollen Menschen digital informieren, damit sich die Ost- und Nordseegäste gegebenenfalls andere Ausflugsziele suchen, die weniger stark besucht und überlastet sind. Das spart Zeit und Nerven.

Wichtig dabei ist: „Es geht hier nicht um Verbote oder Zwänge, sondern darum, Optionen für alternative Orte zu zeigen“, sagt Stellmacher. Während die Urlauber meist in der Nähe ihrer Ferienwohnungen bleiben, seien es vor allem Tagesgäste wie die Hamburger, die an den Sommerwochenenden auf der Autobahn im Stau stehen oder am Zielort verzweifelt einen freien Parkplatz suchen. „Wir sind an der Lübecker Bucht im Sommer natürlich immer gut besucht, aber manchmal würde es schon reichen, zehn oder 15 Minuten weiterzufahren, wo der Strand leerer ist als am Timmendorfer Strand oder in Scharbeutz.“

Auch beliebte Orte an der Nordsee machen mit

Bei dem Vorhaben sind der Forschungsverbund Outdooractive (Immenstadt), das WTZ Füssen (Hochschule Kempten), die Fachhochschule Westküste (Heide) und die Fachhochschule Kiel sowie das Institut für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa in Kiel beteiligt. Das Institut für Tourismus- und Bäderforschung in Nordeuropa (NIT) hat unter Dirk Schmücker die Gesamtkoordination übernommen. „Wir denken, dass sich der Aufwand lohnt, um mehr darüber zu erfahren, wie Menschen nicht einfach per Verbot gelenkt, sondern mit den richtigen Informationen versorgt werden können, um mehr Balance im Tourismus zu erreichen“, so Schmücker.

Bei diesem auf zunächst drei Jahre angelegten Forschungsprojekt werden alle notwendigen Elemente eines digitalen Besuchermanagementsystems – von der Frequenzmessung über den Datenaustausch und die Erarbeitung intelligenter Empfehlungen bis zur Bereitstellung im Smartphone oder an anderen digitalen Sensoren – anhand von Pilotanwendungen untersucht. Neben Modellregionen im Allgäu (Bayern), im Ruhrgebiet und Sauerland (beide in Nordrhein-West­falen) machen auch Regionen an der Nordsee (St. Peter-Ording und Büsum) und eben die Lübecker Bucht mit.

Nordsee und Ostsee: Erforschung neuer Anwendungen

An der Nordsee werden etablierte Standorte wie St. Peter-Ording und Büsum einbezogen, aber auch neue Anwendungen erforscht, zum Beispiel im Bereich der öffentlichen Mobilität. Frank Ketter vom Nordsee Tourismus Service sagt: „Wir wollen die Diskussionen zum Thema Tourismusakzeptanz versachlichen, indem wir belastbare Besucher­zahlen generieren und konkrete Lenkungsvorschläge erarbeiten.“ Gefördert wird die Arbeit mit rund drei Millionen Euro vom Bundesumweltministerium.