Kiel. Thomas Losse-Müller (SPD) will die Landtagswahl in Schleswig-Holstein gewinnen. Wohnungsbau, kostenfreie Kita – das sind seine Themen.

Die Aufgabe ist ebenso reizvoll wie riskant. Reizvoll, aus dem Nichts heraus zum Spitzenkandidaten aufgebaut zu werden um den beliebten Amtsinhaber herauszufordern. Und riskant, krachend zu scheitern – aus genau denselben Gründen. Als die SPD im vergangenen Sommer den erst 2020 von den Grünen zu den Sozialdemokraten gewechselten Thomas Losse-Müller als Spitzenkandidaten ausrief, überraschte sie so ziemlich jeden. Thomas Losse-Wer?, hieß es wenig schmeichelhaft. Parteichefin Serpil Midyatli war eine Überraschung gelungen. Aber zieht sie auch? Das Abendblatt hat Thomas Losse-Müller im Wahlkampf begleitet.

Landtagswahl: Thomas Losse-Müller fordert Daniel Günther heraus

Doch zunächst ein Blick zurück auf das Gesicht der SPD im Norden in den vergangenen Jahren. Auf den „Roten Rambo“ – Ralf Stegner. Zwölf Jahre lang hat er die Partei geführt, war Finanz- und Innenminister, Fraktionschef. Was er nicht geschafft hat: einen Wahlkampf erfolgreich zu führen und dann Regierungschef zu werden. Als Spitzenkandidat brockte Stegner der SPD 2009 mit 25,4 Prozent ihr bis heute schlechtestes Wahlergebnis ein. Die Folge: 2012 durfte Stegner es gar nicht erst ein weiteres Mal versuchen, die Partei schickte den Kieler Oberbürgermeister Torsten Albig ins Rennen – mit Erfolg. An dessen Kabinettstisch saß – der damals Grüne Thomas Losse-Müller. Erst als Staatssekretär der ebenfalls grünen Finanzministerin Monika Heinold, dann als Chef von Albigs Staatskanzlei.

Nach fünf Jahren hatten die Wähler genug von Albig und seiner Küstenkoalition, seither regiert „Jamaika“. Albig landete in politischer Rente, Stegner 2021 im Bundestag – nur Losse-Müller ist wieder präsent auf der Landesbühne. Zur großen Überraschung vieler Beobachter. Noch im Sommer 2021 hatte die „Süddeutsche Zeitung“ orakelt: „Die Sozialdemokratin Serpil Midyatli aus Kiel will erste muslimische Ministerpräsidentin eines Bundeslandes werden.“ Will sie nicht. Zur Wahrheit gehört aber auch: Mit einer Spitzenkandidatin Midyatli hatten die meisten politischen Beobachter gerechnet. Stattdessen präsentierte sie den Grünen mit Thomas Losse-Müller ein „personifiziertes Koalitionsangebot“, wie das Abendblatt schrieb.

Landtagswahl Schleswig-Holstein: Wie tickt Losse-Müller?

Wer aber ist dieser Mann? In der „Geschichtswerkstatt der SPD“ erfährt man über den Kandidaten, dass er 1973 in Schwerte an der Ruhr als Kind eines Lehrerehepaars geboren wurde, am Gymnasium in Iserlohn Schülersprecher war und „Aktionen gegen Neonazis und gegen den Irak-Krieg“ organisierte. Thomas Losse-Müller, ist dort zu lesen, studierte in den 1990ern an der Uni Köln Volkswirtschaft und Politik, da er „schon früh verstand, dass ein funktionierender Staat immer auch viel mit einer funktionierenden Wirtschaft zu tun hat. Ich kann nicht behaupten, dass das Studium immer sehr stringent verlief – da lockten auch noch Jobs als Skilehrer, Roadie bei Tina Turner und Jon Bon Jovi – und sonstige Verlockungen der großen Stadt...“

SPD-Spitzenkandidat Thomas Losse-Müller in der Pinneberger Fußgängerzone.
SPD-Spitzenkandidat Thomas Losse-Müller in der Pinneberger Fußgängerzone. © Burkhard Fuchs

Trotz der Verlockungen gab’s den Abschluss als Diplom-Volkswirt und später noch den Master of Science in London. Die weiteren Stationen im Schnelldurchgang: Deutsche Bank in London, Weltbank in Washington, Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit; Unternehmens- und Strategieberatung. Apropos Verlockungen: 2009 heirateten Thomas Müller und Karen Losse; er entschied sich für einen Doppelnamen. Das Paar hat zwei Töchter und lebt in Bistensee im Kreis Rendsburg-Eckernförde – womit Losse-Müller im selben Wahlkreis antritt wie Daniel Günther.

Umfrage: Losse-Müller bei sechs Prozent

In der CDU heißt es, Günther schätze seinen Konkurrenten als klugen, strategischen Kopf. Aber Losse-Müller sei halt auch der gleiche Typ wie Günther, erzählt man. Der SPD-Politiker wirke ähnlich brav und bieder – Typ perfekter Schwiegersohn. Der Unterschied zwischen diesen ähnlichen Typen: Der eine Kandidat ist der in Umfragen sehr beliebte Amtsinhaber, der andere der wenig bekannte Herausforderer.

Apropos Umfrage: In der am Donnerstag veröffentlichten Umfrage der Meinungsforscher von Infratest dimap im Auftrag des NDR gaben 74 Prozent aller Befragten an, mit Daniel Günther zufrieden oder sehr zufrieden zu sein. Betrachtet man nur die SPD-Anhänger unter den Befragten, so war die Zustimmung für Günther mit 69 Prozent immer noch sehr hoch. Könnten die Menschen im Norden den Ministerpräsidenten direkt wählen, käme Günther auf 62 Prozent, Losse-Müller auf sechs.

Woher rührt die Zuversicht?

Eine letzte Zahl aus der NDR-Umfrage zuvor: Während neun von zehn Schleswig-Holsteiner angeben, Günther zu kennen, waren es Anfang März bei Losse-Müller 26 Prozent. Heißt: drei von vier kannten ihn zu dem Zeitpunkt nicht. Und das, obwohl er im Dauereinsatz ist. Im echten Leben wie im virtuellen. Auf Facebook kündigt er die Wiedereinführung der Mietpreisbremse an, um dann vom „Klimaspaziergang“ mit Nabu und Landjugend durch die Hüttener Berge zu berichten; er erzählt vom Besuch beim THW, stellt die Wahlkampagne der SPD vor, zeigt Fotos von einem Lämmerhof. Und er gibt sich unerschrocken optimistisch, will den Umfragen trotzen und Platz 1 bei der Wahl erreichen.

Woher rührt die Zuversicht? Was kann die SPD noch tun, um Daniel Günther in den verbleibenden Wochen noch gefährlich werden zu können? „Als neuer Herausforderer brauche ich sowohl Sichtbarkeit als Person als auch mit einigen zentralen Themen, die die Menschen für wichtig erachten. So kann ich am ehesten realistische Potenziale heben.“ Das sagt Nico Siegel, der Geschäftsführer von Infratest dimap. Nur: Das sei in diesem Wahlkampf für die SPD und ihren Spitzenkandidaten eher schwierig. „Das Potenzial ist angesichts der Popularität von Daniel Günther aktuell begrenzt, die Sichtbarkeit des SPD-Spitzenkandidaten zumindest bislang ebenso. Die Nachrichtenlage wegen des Kriegs in der Ukraine trägt derzeit ebenfalls nicht dazu bei, landespolitische Themen steil nach vorne zu bringen“, sagt Siegel.

Aber eine Vorentscheidung sieht er nicht: „Die meisten Menschen beschäftigen sich erst in den letzten Wochen intensiver mit einer Landtagswahl, bei einigen kann dies erst in den letzten Tagen vor der Wahl sein“, sagt der Meinungsforscher.

Auf diese Themen setzt Losse-Müller

Was also tun in diesem „Endspurt“? Thomas Losse-Müller setzt ganz auf: Thomas Losse-Müller. So wie Daniel Günther auf Daniel Günther setzt, und es selbst für die Grünen normal geworden ist, einen personalisierten, auf Spitzenkandidatin Monika Heinold zugeschnittenen Wahlkampf zu führen. Losse-Müllers Agentur – sie hat 2020 auch Peter Tschentschers erfolgreichen Wahlkampf in Hamburg gemanagt – rückt den Kandidaten komplett in den Mittelpunkt. Inszeniert ihn am Strand (Thema: Klimaschutz), mit Kindern (Thema: kostenfreie Kitas und Krippen), im Auto (Thema: Busse, Bahnen, Ladesäulen). Nur bei wenigen Motiven ist das lachende Gesicht des meist hemdsärmeligen Typen nicht zu sehen. Einmal verschwindet es hinter einer Maske (Thema Gesundheit), einmal ist der Mund geschlossen – beim Thema Wohnungsmangel gibt es nichts zu lachen.

Es ist einer dieser typischen Tage im März. Über dem Norden strahlt die Sonne, aber Putins Krieg lässt alles dennoch grau und trist erscheinen. In Reinbek trifft Losse-Müller Menschen, die Hilfstransporte organisieren, Geflüchtete bei sich aufnehmen, Spenden sammeln und verteilen. Die helfen, wo immer es nötig ist – wie die Ordensschwester oder die ukrainische Altenpflegerin, die seit Jahren hier lebt. Losse-Müller sitzt in der Cafeteria eines diakonischen Projekts, hört interessiert zu, macht sich Notizen. Er unterbricht nicht, lässt die Menschen von ihren Nöten erzählen. Die Themen, die ihn betreffen, kommen von ganz allein. Dass Wohnraum fehlt, weil der Staat seit Jahren nicht mehr baut, zum Beispiel. Oder dass die Lebenshaltungskosten so explodiert sind, das es oft vorne und hinten nicht mehr reicht.

„Wir von der SPD wollen das Land regieren – weil es besser geht

Am Nachmittag, beim Dialog mit Migranten zu Gast bei der AWO in Ahrensburg, ist es dasselbe. Losse-Müller hört zu. Die Frauen zu unterbrechen, die von Schwierigkeiten mit Behörden berichten oder bei der Wohnungssuche, käme Losse-Müller nicht in den Sinn. Nur gleich zu Beginn, in der Begrüßungsrunde, macht er klar, was ihn umtreibt: „Wir von der SPD wollen das Land regieren – weil es besser geht“, sagt er.

Womit wir bei den Themen wären, auf die Losse-Müller setzt. Da ist, allen voran: der Kampf gegen den Wohnungsmangel. 100.000 neue Wohnungen verspricht er, die das Land vor allem auf der Grünen Wiese – der Kandidat spricht lieber von neuen, smarten Gartenstädten – bauen werde. Eine noch zu gründende Infrastrukturgesellschaft soll die Flächen entwickeln. Die Mietpreisbremse will er wieder einführen, die Grunderwerbssteuer senken.

Die SPD will die Kitagebühren abschaffen

Thema Nummer 2: Die SPD will die Kitagebühren abschaffen. Und dann, Thema Nummer 3, will die Partei die Schulen digitalisieren. „Das Land wird Tablets anschaffen und sie jedem Schüler ab Klasse 8 zur Verfügung stellen“, kündigt Losse-Müller an. Nur: Woher will er das Geld nehmen? Die Tablets sollen mit dem nicht abgerufenen Geld aus dem Digitalpakt bezahlt werden. „Während Ende 2021 im Bundesdurchschnitt fast die Hälfte der fünf Milliarden Euro abgerufen oder zumindest in konkreten Projekten gebunden waren, hat das nördlichste Bundesland erst 18 Prozent der ihm zustehenden Mittel beantragt – 31 Millionen Euro von 170 Millionen“, sagt er.

Thomas Losse-Müller (l.), SPD-Spitzenkandidat zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein, und Ministerpräsident sowie CDU-Spitzenkandidat Daniel Günther (CDU) stehen während des Starts des Wahl-O-Mat zur Landtagswahl an einem Rechner im Landeshaus Kiel.
Thomas Losse-Müller (l.), SPD-Spitzenkandidat zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein, und Ministerpräsident sowie CDU-Spitzenkandidat Daniel Günther (CDU) stehen während des Starts des Wahl-O-Mat zur Landtagswahl an einem Rechner im Landeshaus Kiel. © dpa | Marcus Brandt

Die gebührenfreie Kita wiederum soll aus dem Haushalt finanziert werden – darin sei noch „genug Luft“. Und für die Energiewende und das Ziel, Schleswig-Holstein schon bis 2040 klimaneutral zu machen, will Losse-Müller Kredite aufnehmen. „Wenn ich meine Töchter frage, ob sie einen intakten Planeten oder ein schuldenfreies Land wollen, müssen die keine Sekunde überlegen. Ich übrigens auch nicht“, schreibt Losse-Müller in einem Wahlkampfmagazin der SPD.

„Wir müssen die Alltagsprobleme der Menschen lösen.“

Wohnungsbau, Energiewende, kostenfreie Kita, Digitalisierung – was er plant, fasst Losse-Müller gern so zusammen: „Wir müssen die Alltagsprobleme der Menschen lösen.“ So will er mit der SPD auf Platz 1 landen – oder zumindest guter Zweiter werden. Die Überlegung: Ist die CDU nicht komplett enteilt, lassen sich vielleicht die Grünen aus Günthers Umarmung reißen und für eine Ampelkoalition gewinnen. „Die Grünen sind der SPD thematisch viel näher als der CDU“, sagt Losse-Müller.

Drei Fragen an den Spitzenkandidaten der SPD

  • Welche Parteien bilden die Regierung in den nächsten fünf Jahren in Schleswig-Holstein?
  • Wir wollen den Klimawandel stoppen, die Digitalisierung organisieren und den demografischen Wandel managen. Das gelingt nur, wenn wir als Vorbedingungen den sozialen Zusammenhalt sichern. All das können SPD und Grüne nur gemeinsam lösen. Wahrscheinlich wird es für eine Fortschrittskoalition noch einen weiteren Partner brauchen. Das kann ich mir mit der FDP genauso wie mit dem SSW vorstellen.
  • Was ist für Sie das größte Projekt, das Sie in der Legislaturperiode angehen wollen?Das ist die Abschaffung der Elternbeiträge in der Grundbetreuung von Krippen und Kitas. Damit entlasten wir eine Familie mit zwei Kindern um rund 2500 Euro pro Jahr. Das ist ein historischer Schritt, den Hamburg, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern bereits geschafft haben.
  • Vor welcher Aufgabe haben Sie in den kommenden fünf Jahren den meisten Respekt?
  • Unsere Klimaziele einzuhalten. Da hat Schleswig-Holstein fünf Jahre verloren. Wir liegen deutlich über den Zielen, die wir uns als Gesellschaft gemeinsam gesetzt haben. Wir müssen ernst machen und jetzt viel aufholen. Dazu gehört der beschleunigte Ausbau der Erneuerbaren. Eine flächendeckende Versorgung mit E-Ladesäulen. Und neue Wärmenetze, damit wir die Menschen nicht mit der energetischen Sanierung alleine lassen. All das erfordert erhebliche Investitionen. Sie sind aber notwendig, wenn wir unsere Industrie, unseren Wohlstand und die Bezahlbarkeit von Energie sichern wollen.

Von der grünen Spitzenkandidatin weiß man allerdings auch, dass sie sehr gut mit Daniel Günther harmoniert und zusammenarbeitet, während es zumindest zu Zeiten der Vorgängerkoalition Reibungen mit Staatssekretär Losse-Müller gab, damals noch bei den Grünen. Der hat als Spitzenkandidat der SPD für den Fall einer Regierungsübernahme übrigens zugesagt, das Kabinett paritätisch mit Frauen und Männern zu besetzen. „Gleichberechtigung muss sich auch in der politischen Repräsentation zeigen“, sagte er zum internationalen Frauentag.

Neulich, beim SPD-Jahresempfang, hat Losse-Müller seine Partei aufgerufen, bis zum Schluss für einen Erfolg zu kämpfen. „Glauben Sie nicht, dass mit uns nicht zu rechnen ist!“ Kurs halten sei keine Option, spielt er auf den Wahlkampfslogan der CDU an. „Wir leben in einer Zeit, in der wir Dinge wirklich ändern müssen.“