Quickborn/Itzehoe. Irmgard F. wird Beihilfe zum tausendfachen Mord vorgeworfen – Bedauern zeigt sie im Prozess nicht. Eine Frage aber bleibt zentral.

Es ist einer der letzten großen NS-Prozesse in Deutschland. Seit dem 30. September 2021 muss sich vor dem Landgericht Itzehoe eine 96 Jahre alte Frau aus Quickborn verantworten, die als Schreibkraft im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig tätig war. Irmgard F. ist zugleich die erste Zivilangestellte der SS, die sich einer Anklage wegen Beihilfe zum Mord stellen muss. Die Hälfte des bis Anfang Juni angesetzten Verfahrens ist um – Zeit für eine Zwischenbilanz.

Die Angeklagte Irmgard F. hat gleich am ersten Prozesstag mit ihrer Flucht für Schlagzeilen gesorgt. Als der Krankentransport vor dem Altenheim vorfuhr, war die 96-jährige bereits mit dem Taxi abgehauen. Mehrere Stunden später wurde sie in Hamburg aufgegriffen und kam ins Gefängnis. Fünf Tage lang blieb die Quickbornerin die älteste Frau in einer Untersuchungshaftanstalt in Schleswig-Holstein, ehe das Gericht den Haftbefehl aussetzte.

Stutthof-Prozess: Angeklagte zeigt kein Bedauern

Seitdem wird Irmgard F. an jedem Prozesstag von einer Betreuerin des gerichtsmedizinischen Dienstes im Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben. Verhandelt wird in einem Logistikzen­trum. Ihr Gesicht versteckt sie vor den Fotografen hinter Maske und Sonnenbrille, ihr Haar unter einem Kopftuch oder einem Käppi. Wenn sie sich zu Prozessbeginn demaskiert hat, folgt die 96-Jährige teilnahmslos dem Verfahren. Geäußert hat sie sich weder zu den Vorwürfen noch zu ihrer Tätigkeit in der Lagerkommandantur, die sie laut Anklage zwischen Juni 1943 und April 1945 ausübte.

Von Irmgard F. war bisher nur ein knappes Ja zu vernehmen, als es um die Richtigkeit ihrer Personalien ging. Kein Bedauern über die Gräueltaten in dem KZ, in dem 65.000 Gefangene starben und in dem sie tätig war. Kein Wort der Entschuldigung gegenüber den beiden Überlebenden, die als Zeitzeugen ausgesagt haben. Die 96-jährige bleibt stumm und vermittelt den Eindruck, als sitze sie vor Gericht einfach ihre Zeit ab.

Angeklagte macht von Schweigerecht Gebraucht

Wolf Molkentin und Niklas Weber sind die Pflichtverteidiger und haben ihrer Mandantin geraten, von ihrem Schweigerecht Gebrauch zu machen. Sie haben erreicht, dass die früheren Aussagen, die Irmgard F. etwa 1954 im Verfahren gegen den KZ-Kommandanten Paul Werner Hoppe gemacht hat, in diesem Prozess nicht verwendet werden dürfen. Das gilt auch für weitere Angaben aus den Jahren 1964, 1966 und 1982.

Damals sagte die Quickbornerin als Zeugin aus, hatte also kein Zeugnisverweigerungsrecht. 2017, als sie im Rahmen des gegen sie laufenden Ermittlungsverfahrens von einem Staatsanwaltschaft befragt wurde, hätte sie die Aussage verweigern können, tat dies jedoch nicht. Den Antrag ihrer Verteidiger, auch diese Aussagen zu sperren, lehnte das Gericht ab.

Die Richter widersprachen der Argumentation der Verteidiger, dass die hochbetagte Angeklagte vor fünf Jahren die Belehrung des Staatsanwalts zu ihrem Aussageverweigerungsrecht nicht richtig verstanden habe.

Hatte Irmgard F. Kenntnis vom Massenmord in Stutthof?

Verteidiger Molkentin hat in dem Verfahren deutlich gemacht, die im KZ Stutthof begangenen Gräueltaten nicht anzweifeln zu wollen. Die Verteidigung wolle sich jedoch intensiv mit dem Beihilfevorwurf befassen. Dieser setze voraus, dass die Angeklagte Kenntnis von dem Massenmord gehabt und diesen durch ihre Tätigkeit aktiv unterstützt habe. Belastbare Fakten dafür gebe es aus Sicht der Verteidigung nicht. So sei noch nicht einmal ein Schreiben aus Stutthof gefunden worden, das die Angeklagte mit ihrem Kürzel abgezeichnet habe.

Welche Aufgaben Irmgard F. als Schreibkraft in Stutthof tatsächlich hatte, soll der historische Sachverständige Stefan Hördler beleuchten. Sein vorläufiges Gutachten ist Bestandteil der Anklageschrift, der Experte der Uni Göttingen damit einer der Hauptzeugen. An den bisherigen elf Prozesstagen, die aufgrund des angegriffenen Gesundheits­zustands der Angeklagten nur maximal zwei bis zweieinhalb Stunden dauerten, kam Hördler bereits fünfmal zu Wort.

KZ Stutthof: Lagerkommandant besuchte Angeklagte

Er hat Ausführungen zum Aufbau eines KZ, zu seinen Abteilungen und zu den Frauen im KZ-System gemacht. Zuletzt befasste er sich mit dem Lagerkommandanten Hoppe, unter dem die Angeklagte tätig war. Für den Historiker ist klar, dass Irmgard F. aus freien Stücken ihre dortige Stellung antrat, dass sie offenbar direkt dem Kommandanten zugearbeitet hat und sie mitten in der Schaltzentrale der Lagerkommandantur ihrer Tätigkeit nachging.

Auch hat der Sachverständige herausgearbeitet, dass Lagerkommandant Hoppe, der nach dem Krieg untergetaucht war, in dieser Zeit die damals in Schleswig wohnende Angeklagte und ihren Mann besucht hat. Der war als Rechnungsführer im Kommandantur­stab in Stutthof tätig.

Hördler berichtete noch von Besuchen weiterer SS-Größen aus Stutthof nach dem Krieg – darunter von SS-Rapportführer Arno Chemnitz – für Hördler ein „Mordspezialist“. Chemnitz soll zunächst im KZ Buchenwald und später dann in Stutthof eine Genickschussanlage installiert und betrieben haben, die als Arztzimmer getarnt war. Er tauchte nach dem Krieg unter, bis heute fehlt von ihm jede Spur.

Holocaust-Überlebende erzählte Geschichte per Video

Welchem Zweck diese Besuche dienten, konnte Hördler nicht sagen. Auch hat er bisher keine konkreten Details zur Tätigkeit der Angeklagten in dem KZ preisgegeben. Mit diesem Part will sich der Historiker später befassen, er wird im März wieder vernommen. Für den nächsten Verhandlungstermin am 8. Februar sind der Staatsanwalt, der Irmgard F. 2017 befragt hatte, und ein LKA-Ermittler geladen.

Die Vernehmung der Holocaust-Überlebenden Asia Shindelman wird später fortgesetzt. Die heute 93 Jahre alte gebürtige Litauerin hatte ihre Lebens­geschichte per Videoschalte aus dem Wohnzimmer ihres Hauses in New Jersey erzählt. Sie wurde 1944 mit ihrer Familie in einem Güterwagen zusammengepfercht mit anderen Gefangenen nach Stutthof deportiert.

„Diese Unglücklichen waren sofort tot“

„Etwa vier Tage waren wir unterwegs, dann blieb der Zug plötzlich stehen, und die Türen wurden geöffnet. Davor standen SS-Männer, bewaffnet mit Peitschen und begleitet von bösen Hunden.“ Am nächsten Morgen habe die Selektion begonnen. „Männer mussten auf die eine, Frauen auf die andere Seite. Ältere und Halbwüchsige bildeten die dritte Gruppe.“ Ihre Oma habe sie an diesem Tag das letzte Mal gesehen. Man habe gebrauchte Kleidung und eine Nummer erhalten. „Es ist 80 Jahre her, aber ich weiß sie noch auswendig – es war 54138.“

Heute befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen KZ Stutthof in der Nähe von Danzig eine Gedenkstätte.
Heute befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen KZ Stutthof in der Nähe von Danzig eine Gedenkstätte. © picture alliance / dpa | Piotr Wittman

Den ganzen Tag über habe man in brütender Hitze vor der Baracke strammstehen müssen. „Wer umfiel und nicht mehr aufstehen konnte, dem haben die Deutschen den Rest gegeben.“ Die Bewacher hätten die Gefangenen in den unter Strom stehenden Zaun schubsen dürfen. „Diese Unglücklichen waren sofort tot.“ Andere seien von den Hunden zerfleischt worden. „Erschießen durften sie uns auch, auch totschlagen.“

Asia Shindelman überlebte Todesmarsch

Die 93-Jährige berichtete von der Knochenarbeit, die sie täglich erledigen mussten. Etwa Schützengräben ausheben. In sengender Hitze – oder beißender Kälte. Stets unzureichend gekleidet, ohne ausreichend zu essen oder zu trinken. „Stutthof war die Hölle.“ Asia Shindelman überlebte mit ihrer Mutter im Januar 1945 einen Todesmarsch nach Deutschland – und fand dort ihren Vater wieder, der ebenfalls überlebt hatte.

Der Vater von Josef Salomonovic (83) wurde am 17. September 1944 in Stutthof ermordet. An diesem Tag sei ein deutscher Offizier mit einem weißen Mantel vor die angetretenen Männer getreten und habe versprochen, dass jeder von ihnen, der sich schlecht fühle, ein Aspirin bekommen würde. Sein Vater habe das trotz Warnungen der Mitgefangenen geglaubt („Er sagte meinem Bruder, ein deutscher Offizier lügt nicht“), sei mitgegangen und durch eine Benzolspritze ins Herz ermordet worden.

Der heute 83-Jährige war mit seiner Familie am 3. September 1944 im Alter von sechs Jahren von Auschwitz nach Stutthof verlegt worden. Am schlimmsten sei dort der Hunger gewesen – und die Kälte. Er schilderte stundenlange Zähl­appelle ab 5 Uhr morgens, bei denen er zwischen den Beinen seiner Mutter Wärme suchte Salomonovic hatte während seiner Aussage ein Bild seines Vaters Erich in Richtung von Irmgard F. gehalten, die nicht darauf reagierte. „Sie sollte etwas ganz Konkretes sehen. Für mich ist sie indirekt schuld, vielleicht hat sie ja den Stempel auf den Totenschein meines Vaters gemacht“, so der Zeuge im Anschluss gegenüber Journalisten.

Warum eine Jugendkammer über den Fall befindet

Ob Irmgard F. der Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen schuldig ist oder nicht, muss letztlich eine Jugendkammer des Landgerichts entscheiden. Sie ist zuständig, weil die Angeklagte zum Zeitpunkt der Taten als Heranwachsende galt. Im Falle eines Schuldspruchs dürfte allenfalls eine Bewährungsstrafe folgen – so wie etwa bei Bruno D., der als Wachmann in Stutthof eingesetzt und 2020 vom Landgericht Hamburg zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt worden war.

Das Gericht hat noch 13 Verhandlungstage bis zum 7. Juni angesetzt. Ob sie ausreichen, ist unklar. Mehrere Termine waren bereits abgesagt worden – zumeist wegen Erkrankung der Angeklagten. 31 Nebenkläger haben sich dem Verfahren angeschlossen, die von 13 Opferanwälten vertreten werden. Wie viele der Nebenkläger noch persönlich aussagen wollen, ist nicht bekannt.