Keitum. Der Journalist Werner Rudi lebt in Keitum. Er spricht von Heimat, Geborgenheit, Stolz. Aber auch vom Nebel des Neides.
Die Insel war die Liebe meiner Frau. Ich liebäugelte mit Kalifornien, dort wollte ich als Auslandskorrespondent arbeiten. Es wurde ein Häuschen in Keitum. 26 Jahre ist das jetzt her.
Unsere beiden Kinder wurden noch in Keitums Grundschule mit Wattblick unterrichtet, das Heranwachsen auf der Insel gab ihnen so feste Wurzeln, dass sie gut gerüstet in die weite Welt abenteuerten. Und immer wieder gern zurückkommen.
26 Jahre war mir bewusst, dass dieses Leben Privileg war. Wir fanden Freunde, Aufgaben, genossen die Kontraste, kurvten durch die wuseligen Sommer und kuschelten uns in die langen Winter, die – seien wir mal ehrlich – oft erst Ende April endeten.
Einige Sylter profilieren sich mit Härte
Sylt war Heimat, Geborgenheit, ja Stolz. Oft Freude über Alltagshilfen in der Nachbarschaft, manchmal Erstaunen über das Fallen von kapitalen Hochstaplern und das Hereinfallen von denen, die kirre von vielen Nullen die Orientierung verloren hatten.
Dann kam Corona. Die fatale Einladung von überkreativen Touristikern, „Coronaurlaub“ auf Sylt zu verbringen. Champagnerluft mit Jodzusatz – da muss dem Virus bei der Tröpfcheninfektion doch die Puste ausgehen. Massenanreise, Massenabreise.
Ein Szenario ohne Beispiel: Eine Urlaubsinsel musste quasi über Nacht Urlauber entsorgen. Eine schwierige Disziplin für beide Parteien. Die meisten schafften es mit der Aussicht, sich demnächst wieder ohne peinliche Altlasten zu begegnen.
Einige Insulaner profilierten sich indes mit Härte: warfen ihre Gäste regelrecht aus dem Haus. Die Gäste von gestern mutierten binnen Stunden zu Konkurrenten um die Beatmungsgeräte auf der Intensivstation. Auch Zweitwohnungsbesitzer mussten auf der Insel Land gewinnen – ab, ab aufs Festland.
Fakt ist: Bis heute musste auf Sylt noch kein einziger Patient wegen Covid-19 im Krankenhaus behandelt werden. Nicht ein Test war dort je positiv. Die kleine Nordseeklinik hat in einem Kraftakt dennoch so aufgerüstet, dass die Anzahl der Beatmungsbetten nun sogar über dem Bundesdurchschnitt liegt.
Unternehmer zeigen große Verantwortung
Und doch spitzte sich die gefühlte Krise zu: Autofahrer mit fremdem Kennzeichen wurden bepöbelt und angezeigt. „Fahrer ist Insulaner“, mit solchen Schildern mussten sich fortan Nicht-NF-Autos schützen. Radelnde Sylter Familien wurden von wachsamen Syltern gestoppt. „Sie sind doch sicher Touristen. Ich will ihre Ausweise sehen“, forderte keck eine Frau in Morsum. Am selben Tag wurde bekannt, dass einige Sylter Vermieter mit ihren NF-Autos Gäste auf die Insel schmuggelten.
Ist diese Insel irre geworden?
Wenn ein Sylter Unternehmer akzentuiert begründet, warum „eine schrittweise Lockerung für Gäste vertretbar ist“, wird ihm unterstellt, dass er „Menschenleben riskiert, damit er wieder Geld schaufeln kann.“ Wer den Nebel des Neides beiseiteschiebt, erkennt: Sylter Unternehmer haben bisher große gesellschaftspolitische Verantwortung gezeigt – Mieten und Pachten wurden gestundet, Kurzarbeiter-Geld aufgestockt, Entlassungen bisher so gut wie vermieden. Das derzeit arg strapazierte Credo, durch möglichst lange Abschottung möglichst viele Menschenleben zu retten, hat eine Konsequenz – den Tod der Insel.
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Selbst Ärzte befürchten, dass die dauerhafte Beschränkung der Ökonomie mehr Gesundheitsschäden – bis hin zum Selbstmord – verursacht als das Virus. Das Wort klingt schrecklich, gehört aber auch im Mikrokosmos Sylt zum Vokabular der Krise: Durchseuchung. Ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung muss „positiv“ sein, damit sich das Virus nicht mehr so stark ausbreitet.
Der Feind der insularen Gemeinschaft ist nicht das Virus
Aber auf diesem Knust gibt es beste Umweltbedingungen, die Bedrohung zu meistern – auch wenn sich Gäste wieder dorthin wagen, wo ihr Geld jahrzehntelang großzügig entgegengenommen wurde. Man kann sich aus dem Weg gehen, trotzdem gut einkaufen und bestens versorgen. Der Schlüssel ist Hygiene und das Einhalten von Regeln – das gilt für Insulaner und Touristen gleichermaßen.
Risikopersonen werden auf Sylt jetzt schon von Angehörigen, Bekannten oder Vereinen sorgsam und achtsam betreut. Der Feind der insularen Gemeinschaft ist nicht das Virus – es ist die Angst vor dem Virus.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat gerade in seiner Ansprache gesagt: „Diese Krise ruft das Schlechteste und das Beste in den Menschen hervor.“ Nach den Irrungen der letzten Wochen wäre es für Sylt nun an der Zeit, das Beste zu zeigen, Risikoabwägungen Experten und der Politik zu überlassen und dem friesischen Wahlspruch („Rüm hart – klaar Kimming“, weites Herz – klarer Horizont) zu folgen.
Sonst ist Sylt bald auch nicht mehr das, was es noch nie war.
Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen
- Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Hände waschen
- Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
- Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
- Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten
- Schutzmasken und Desinfektionsmittel können helfen – aber umgekehrt auch zu Nachlässigkeit in wichtigeren Bereichen führen