Matthias Iken und Juliane Kmieciak berichten. Bilanz des Tages zwei: Auf Föhr duftet der Frühling und am Priwall gibt es Quallen.

Die Reporter berichten im Abendblatt von ihren Erlebnissen. Matthias Iken genießt Sylts Nachbarinsel und die idyllischen Dörfer mit Grünland, Knicks und Feldern. Juliane Kmieciak fährt vom Timmendorfer Strand zur Naturschutzstation und erfährt Spannendes über die Ostseetierwelt.

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Nordsee, Matthias Iken

Nein, das hat Sylt nicht verdient. Man kann den ganzen Reisehinweisen gar nicht entkommen. Esbjerg, Tondern, Ribe! Helgoland jeden Montag! Oder Frühstücksfahrt, Kaffeefahrt und Dämmertörn. Piratenfahrt mehrmals wöchentlich. Inselhopping. Zu den Seehunden inklusive Seetierfang. Mies­muscheltour. Inselkreuzfahrt. Hallig Hooge. Scholle und Makrele „satt“. Verdammt viel Schlick, Schnick und Schnack. Aber das Geschäft mit der Sylt-Flucht floriert. Warum eigentlich?

Ich flüchte berufsbedingt. Heute geht es dorthin, wo die Nordsee mitunter an die Ostsee erinnert – oder in der umküstennebelten Fantasie mancher PR-Strategen gar an die Karibik. Auf nach Föhr! Ab Hörnum fahren Adler-Schiffe fast täglich. Allerdings können die tideabhängigen zweieinhalb Stunden durch die graue See sehr laaaan­g werden. Eine Sandbank mit Kegelrobben hier, das Schiffswrack der Pallas dort, wenig Augenfutter unter viel aschgrauem Himmel. Klug, wer ein gutes Buch an Bord hat.

Föhr begrüßt mich mit einem norddeutschen Tropfenregen. Sieht nicht schlimm aus, ist er aber. Dafür duftet Föhr nach Frühling. Die Insel liegt im Windschatten des mondänen Sylt und des Badeparadieses Amrum – und wird zu Unrecht unterschätzt. Wie die Nachbarn ist Föhr erst seit der Groten Mandrenke 1362, die Tausende Opfer forderte und Nordfrieslands Küste völlig umgestaltete, eine Insel. Davon spürt man an vielen Stellen nur wenig: Marschen, Grünland, Knicks, Felder. Föhr ist landwirtschaftlich geprägt. Insgesamt 16 Inseldörfer verteilen sich auf der fladenartig-runden Insel, deren Umrisse nicht zum Autoaufkleber taugen.

Ohnehin ist man mit dem Fahrrad besser unterwegs. Zum Freundschaftspreis von 10 Euro darf ich beim „Deichgraf“ in Wyk den Drahtesel bis zum nächsten Morgen leihen und radele ins Friesendorf Oevenum. In Krögers Dörpskrog, einem reetgedeckten Landgasthof von 1713, kostet das sehr ordentliche Zimmer inklusive Frühstück nur 45 Euro. Und wenn die Sintflut vorbei ist, kann man von hier gut die Insel erkunden.

Am Nachmittag zeigen sich einige Wolkenlücken. Mit dem norddeutschen Himmel geht es mir wie mit meinen Kindern, hellt er sich auf, kann man nicht lange böse sein. Im Nachbarort liegt ein für ein kleines Friesendorf spektakuläres Kunsthaus – das Museum der Westküste. Es ist eine überschaubare und beeindruckende Sammlung nordischer Künstler. Und schnell wird klar: Maler bevorzugen dunkle, dramatische Himmel, die blaue Sommerfrische reizt sie kaum. Was für ein Trost. Ich erlebe malerische Tage.

Nur ein Katzensprung entfernt liegt – liebe Keitumer, ihr müsst nun tapfer sein – das schönste Dorf Nordfrieslands: Nieblum. Prächtige Friesenhäuser unter hohen Ulmen und Linden künden vom einstigen Reichtum der Insel. Im 17. und 18. Jahrhundert führen viele Inselfriesen als Seeleute oder Kapitäne auf Grönlandfahrt zur Walfischjagd.

Ich passiere das Ernst-Schlee-Schullandheim, das sich heute in Trägerschaft des Gymnasiums Othmarschen befindet. Plötzlich fügen sich Erinnerungssplitter zu einem Bild zusammen. Hier bin ich einst gewesen, vor 28 Jahren auf Klassenfahrt. Der Bolzplatz, auf dem wir spielten, der Strand, an dem wir uns ins Wasser stürzten, der Kaufmann, bei dem wir heimlich Bier holten. Plötzlich übermannt das Gefühl, alt zu werden. Immerhin das Einzige, was alternativlos ist. Wer will schon jung sterben?

Die Grabsteine auf dem Friedhof Nieblum sind große Erzähler, sie erzählen Geschichten vom Leben und spenden Trost den Überlebenden. „Der Tag, wenn einer stirbt, ist beßer als die Nacht, in welcher man aufs Meer der Welt hineingebracht. Wohl dem, der bey den Stürmen, bewahret ist vor Stranden, und in den stillen Port, der seligen kann landen“, steht auf einem Grabstein zu lesen. Ein Bummel über den Gottesacker lehrt Demut. Und predigt stumm: Mit dem Glauben geht auch der Trost.

Aus der Kirche, nicht zu Unrecht Friesendom genannt, erklingt lebendige Musik. Das Schulorchester des Gymnasiums Blankenese probt für seinen Auftritt am heutigen Abend, Weber, Brahms, Schostakowitsch. Seit Jahren fahren die Blankeneser nach Nieblum. „Hier fühlen wir uns fast zu Hause“, sagt Dieter von Sachs, Leiter des Orchesters. Die Eisdiele, der Strand, St. Johannis. Alte Bekannte, die man immer gerne wieder trifft.

Das Spektakuläre an Föhr ist das Unspektakuläre. Die Strände sind – obwohl sich der Sand rund 15 Kilometer von Wyk nach Utersum zieht, eher ostseeähnlich. Die Wirtshäuser sind noch Gasthäuser, die Orte noch Dörfer. Früh hat der Tourismus hier Fuß gefasst, schon 1842 verbrachte der dänische König Christian der VIII. den Sommer auf Föhr, doch der Fremdenverkehr ist nicht alles. „Diese Landschaft hat gar nichts Äußerliches, Lautes“, wunderte sich Christian Morgenstern 1905 auf Föhr. Daran hat sich 111 Jahre später wenig verändert.

Ostsee, Juliane Kmieciak

Ostsee, ich komme. „Einfach rauf auf die Promenade und dann nur noch geradeaus, da kannste nix falsch machen“, ruft mir der Mann vom Fahrradverleih hinterher. An diesem deutlich frischeren Morgen möchte ich die Lübecker Bucht auf zwei Rädern erkunden. Von Timmendorfer Strand nach Travemünde. Elf Kilometer steht auf einem Schild. Wer zügig durchfährt, schafft es vielleicht in 45 Minuten. Aber ich möchte mir Zeit nehmen, die Natur und den Ausblick genießen. Die Route führt bis auf zwei Pflichtschlenker direkt am Wasser entlang. Teilweise an kargen und steilen Felsen vorbei. Brodtener Ufer heißt die rund vier Kilometer lange Steilküste nahe dem Örtchen Brodten. Nur selten kommen mir auf der Strecke andere Fahrradfahrer oder Spaziergänger entgegen. Was kann es Schöneres geben, als sich so langsam am Meer wachzuradeln?

Na vielleicht, wenn am Ziel schon jemand mit einer kleinen Stärkung warten würde? Als ich dann ganz am Anfang der Travemünder Promenade bei der „süßen Seebrücke“ bin, muss ich einfach anhalten. Einen besseren Ort für ein zweites Frühstück kann es nicht geben. Dass eine Strandbude mit einem solchen Namen nicht auf Wurststullen spezialisiert ist, versteht sich von selbst. Stattdessen gibt es selbst gebackenen Kuchen von Andi und Ve­rena.

Die Stücke sind so groß, dass sich die Sache mit dem Mittagessen im Grunde erledigt hat. Und mit Blick aufs Meer schmeckt der Schmand-Mandarinen-Kuchen noch einmal besser als sowieso schon. „Viele Touristen kommen nach Travemünde, weil sie hier die großen Fährschiffe beobachten können“, sagt Inhaber Andi. „Heute ist ja wenig los, aber wenn sich ein Kreuzfahrtschiff angekündigt hat, platzt Travemünde aus allen Nähten.“

Aber auf Schiffegucken hätte ich heute eh keine Lust. Das kann ich ja in Hamburg machen. Mein nächstes Ziel ist der Priwall. Das ist eine etwa drei Kilometer lange Halbinsel an der Mündung der Trave. Rüber geht’s mit einer Fußgänger- und Fahrradfähre, die den ganzen Tag über hin- und herpendelt. Wer aber – wie ich – glaubte, in einer Naturschutzgebiet-Idylle anzukommen, wird derzeit enttäuscht. Alles Baustelle. Hier soll bald die Priwall Waterfront entstehen, laut Homepage das „exklusivste Ferienresort“ an der Ostsee. Ach ja, und der berühmte Viermaster „Passat“ liegt hier auch – aber wie gesagt: Für mich heute keine Schiffe.

Ich will lieber etwas mehr über die Ostsee erfahren und radle hinter der exklusivsten Baustelle der Ostsee entlang bis zur Ostseestation. „Komm einfach irgendwann rum. Ich bin immer da“, hatte mir der Betreiber und Meeresbiologe Thorsten Walter vorher am Telefon gesagt. Als ich eintrete, erklärt er gerade einer Gruppe von Kindern und Erwachsenen den Unterschied zwischen einer normalen Qualle und einer Feuerqualle, berichtet dann vom recht unromantischen Paarungsverhalten der Tiere und dass gerade viele der glibschigen Gesellen im Hafen rumtreiben würden. „Die hat die Strömung reingedrückt“, sagt Walter.

Im Nebenraum mit vielen großen Aquarien geht’s dann von der Theorie in die Praxis. Seesterne auf die Hand nehmen und streicheln, Hummer füttern und Plattfische im Sand zählen. Der zwölfjährige Linus aus Nürnberg ist schon zum zweiten Mal mit seiner Mutter hier und kann mit Expertenwissen glänzen. Und so erklärt er seinen Altersgenossen, wo die Seesterne ihre Augen haben und wo Mund und Po sitzen. Thorsten Walter, der die Ostseestation 2007 aufgebaut hat, gelingt es, dass der Besuch für Erwachsene genauso spannend ist wie für Kinder (6 und 4 Euro Eintritt). Jedenfalls stellen die Eltern mindestens genauso viele Fragen wie der Nachwuchs. Dabei geht es immer wieder auch um die Unterschiede zur Nordsee. „Durch den niedrigeren Salzgehalt leben hier in der Ostsee in der Regel kleinere Fische“, sagt Walter. „Das ist für viele Tiere ein Stressfaktor, deswegen wachsen sie meist nicht so groß heran.“ Wieder was gelernt.

Als die Kleinen gerade in einem Aquarium die Quallen beobachten, erzählt er den Erwachsenen, dass die Zukunft der Ostseestation ungewiss ist. Durch die Priwall-Waterfront müsse das Haus wohl Ende des Jahres abgerissen werden. Und für einen Neu­aufbau an anderer Stelle fehle das Geld. „Die Verhandlungen mit der Kur­verwaltung laufen noch.“

Und dann gibt er uns Ostseetouristen noch ein paar gastronomische Hinweise mit. „Frisch aus der Pfanne“ habe meist nichts (aber auch gar nichts) mit „fangfrisch“ zu tun. Und die sogenannte Ostseeplatte nur selten etwas mit Fisch aus der Ostsee. Sondern? „Ostseeplatte heißt in der Regel nur, dass Bratkartoffeln dabei sind.“ Während er so redet, merke ich, dass ich Hunger bekomme. Und mein Zimmer (über Airbnb gebucht, 80 Euro) liegt ja praktischerweise direkt an der Vorderreihe in Travemünde. Also schnell dorthin und vertrauenswürdige Fischangebote suchen. Auf jeden Fall was Lokales. Meerforelle vielleicht oder Hering. Und wenn dann auch noch Bratkartoffeln dabei sind, dürfte es von mir aus auch „Ostseeplatte“ heißen.