Brokstedt/Elmshorn. Vom Ein-Frau-Projekt zu 60 Mitarbeitern: Wie die Traumabewältigung bei zehn Opfern der Tat läuft. Verein startet drei neue Projekte.
Gut ein Jahr Jahre ist die schreckliche Bluttat in einem Regionalzug her. Ein 34 Jahre alter schwerkrimineller Palästinenser hatte zwei junge Menschen getötet und weitere zum Teil schwer verletzt, auch deren Psyche. So eilten neben den Polizei- und Rettungskräften fachkundige Menschen an den Tatort, die helfen sollten, das Trauma des Erlebten zu verarbeiten – eine Herausforderung, wie sie die Mitarbeiter des Vereins Wendepunkt, die sich vornehmlich um Opfer von Gewalt und auch Täter kümmern, bis dahin nicht erlebt hatten. Zwei neue Aufgaben erwuchsen aus dieser Tragödie und eine dritte kam jetzt auch noch dazu.
Der Trauma-Pädagoge Sascha Niemann und drei seiner Mitstreiter waren anfangs fast täglich in der Gemeinde und der nahen Stadt Kellinghusen, da viele Pendler aus dem Zug in dieser Region leben. Auch die Trauerfeier zum ersten Jahrestags des Attentats am 25. Januar begleiteten sie eng. Eindrücklich forderte auch an diesem Tag der Vater der im Alter von 17 Jahren getöteten jungen Frau Konsequenzen. Die wird es auch mithilfe eines neuen Projekts des Wendepunktes geben.
Brokstedt: Konsequenz nach Bluttat ist die Gewaltpräventions-Ambulanz
Der Wendepunkt baut eine Gewaltpräventions-Ambulanz auf, die eine Lücke zwischen Haftanstalt und Bewährungshelfern schließen soll. Die Beteiligten sollen sensibilisiert werden, mögliche Gefahren besser einzuschätzen, die von Menschen nach einer Haftentlassung ausgehen. Hintergrund: Der Gewalttäter von Brokstedt war kurz vorher ohne weitere Auflagen aus der Haft entlassen worden. Dieses Projekt wird aus Mitteln des Justizministeriums des Landes gefördert.
Ebenso soll die psychosoziale Nachsorge nach Straftaten verstärkt werden. Auch dafür gibt es Fördermittel des Landesjustizministeriums. Um die Betroffenen der Bluttat von Brokstedt, darunter Hunderte von Mitschülern, Augenzeugen aus dem Regionalzug, Angehörige, Lehrkräfte hatten sich aktuell bis zu vier Mitarbeiter des Wendepunktes gekümmert. Sie sind Teil der interdisziplinären Trauma-Ambulanz Westholstein, einer Kooperation des Wendepunktes und der Regio Kliniken.
Immer noch werden bis zu zehn Personen psychologisch betreut
Sascha Niemann, Leiter des Traumazentrums, schildert: „Betroffene leiden unter Angstzuständen und Panikattacken, fühlen sich in ihrem Sicherheitsgefühl erschüttert.“ Anfangs ging es ihm und seinen Kollegen darum, die Hilfesuchenden mit vertrauten Menschen zusammenzubringen, damit sie dort über Gespräche neuen Halt fanden. Im Laufe der Zeit kristallisierten sich bis zu 40 Menschen heraus, die tiefgründig Unterstützung und Therapien benötigten.
Heute sind es noch bis zu zehn Personen, die von Sascha Niemann und seinem Team begleitet werden. Niemann ging mit Jugendlichen, die Angst hatten, sich wieder in eine Bahn zu setzen, zum Bahnhof, half ihnen in kleinen Schritten wieder in den Alltag zurückzukehren und Sicherheiten neu zu fühlen. Viele Traumatisierte nehmen noch heute diese intensive Betreuung im Schutzraum des Wendepunktes wahr.
Neues Projekt: Traumapädagogik für Schulen
Die dritte neue Aufgabe ist aus der erfolgreichen Traumapädagogik für Kindertagesstätten und Familienzentren gewachsen, die vom Sozialministerium gefördert wird. Jetzt fördert das Bildungsministerium diese Traumapädagogik auch für Schulen. Die Wendepunkt-Mitarbeiter sollen Fachkräfte in Schulen weiterqualifizieren, damit sie sich intensiver um die Kinder kümmern können, die Gewalt im Krieg, auf der Flucht und in den Familien erleben. Sie sollen Kinder stärken können, die durch die Pandemie und die wachsenden Sorgen um Klima und Frieden belastet sind.
Und so wächst und wächst das Aufgabenfeld und die Mannschaft des Wendepunktes. „Wir sind vor 30 Jahren als Ein-Frau-Beratungsstelle gestartet, die über sexuellen Missbrauch aufklären wollte“, erinnerte Dirk Jacobsen, Diplom-Psychologe und Leiter der Einrichtung, an die mühevolle Aufbauarbeit seiner Vorgängerin Ingrid Kohlschmitt.
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Heute sind es 60 Mitarbeiter, die sich, aufgeteilt auf vier Fachbereiche und finanziert aus 25 Fördertöpfen, einem Ziel verschrieben haben: für eine Gesellschaft einzutreten, die „respektvoll und gewaltfrei in Erziehung, Partnerschaft und Sexualität“ lebt. Ein langer Weg, der auch die Fachkräfte an den Rand ihrer Kräfte bringen, wie nach der Bluttat von Brokstedt und vielen nicht so öffentlichen Dramen.