Hetlingen. In der Blütezeit war der Hetlinger Elbstrand als Industriestandort in ganz Europa bekannt. Heute läuft die Produktion immer noch.
Die Stimmung ist gut in der kleinen Werkstatt in Hetlingen neben der Dorfkirche – es wird gescherzt, während die Bandreißer ihre Stöcke aus Weidenholz konzentriert bearbeiten. Vielleicht kommt die gute Laune auch von der medialen Aufmerksamkeit, die dem kleinen Team neuerdings widerfährt. Denn Bandreißer? Was sind das eigentlich für Leute?
Die traditionelle Handwerkskunst des Bandreißens in der Haseldorfer Marsch an der Elbe wurde kürzlich beiläufig in einem TV-Beitrag vom NDR erwähnt. Früher, als die Waren noch in Holzfässern transportiert wurden, war das ein florierender Wirtschaftszweig der Region. 48.000 Weidenzweige pro Woche wurden gebogen, um später um Holzfässer gewickelt zu werden. Heute gewinnt der Beruf wegen des Trends zu Naturmaterialien wieder an Bedeutung.
Elbe: Bandreißer in der Haseldorfer Marsch blicken auf lange Tradition zurück
Beim Bandreißen werden die rund gebogenen, der Länge nach halbierten und außen um die Fässer gewickelten Weidenstiele so bearbeitet, dass sie später der Stabilität der Behälter dienen. Gerade bei verderblichen Lebensmitteln, zum Beispiel Butter, konnten wegen des eindringenden Rosts keine Metallringe genutzt werden. Das Herstellen von Fassbändern aus Weiden war damals ein lukratives Geschäft. Die Weidenbänder wurden etwa in den skandinavischen Raum exportiert.
Wilfried Müller, Christian Gerdes, Heiko Koopmann und Heinrich „Heini“ Brunckhorst halten die Erinnerung an das einst so florierende Handwerk der plattdeutsch betitelten „Bannmoker“ hoch. Eine fast vergessene Kulturtechnik, die größtenteils an der Unterelbe ausgeübt wurde. Insgesamt seien sie in Hetlingen noch zu siebt, meint Müller, dessen freundliche Augen blitzen. Ebenfalls dabei sind Jürgen König, Wolfgang Thiess und Timo Unruh, der mit 56 Jahren das jüngste Vereinsmitglied ist.
„Wir Bandreißer sind am Absterben“, sagt der 72-jährige Dorfbewohner schmunzelnd. Junge Leute, die mitmachen wollen, und das Handwerk in der Scheune an der Hetlinger Hauptstraße lernen möchten, gebe es einfach nicht. Zu Spitzenzeiten gab es noch etwa 20 Männer, die dieses Hobby auch auf Mittelaltermärkten oder norddeutschen Kulturfesten auslebten. Oder eben im Fernsehen, etwa in den Formaten Landpartie, Leuchte des Nordens oder Bingo waren oder sind die Hetlinger „Medienstars“ zu sehen.
An der Elbe: Bandreißer gehören seit 1995 zum Kulturverein Hetlingen
Seit 1995 sind die Bandreißer Teil des Kulturvereins Hetlingen. „Wir sind hier im Norden, im Nordosten und auch in Niedersachsen seitdem regelmäßig bei Veranstaltungen dabei“, sagt Gerdes. „Hier bei uns in der Werkstatt treffen wir uns einmal die Woche für gut zwei Stunden“, erzählt Müller.
Beim Bandreißen beginnt alles mit der Fällung der dünnen Baumstämme. Die Weiden haben sie direkt vor der Haustür, das Gewächs gedeiht in Elbnähe exzellent, geerntet wird im Winter. Im jährlichen Wechsel auch in Molfsee (bei Kiel). Dort ist ihnen vom Freilichtmuseum ein kleines Areal überlassen worden. Die Stiele kommen zunächst ins Wasser, dadurch lässt sich die Baumrinde in der Bearbeitungszeit um Pfingsten herum leichter abschälen. Dieser Vorgang wird „basten“ genannt.
Bandreißer in Hetlingen: 48 Weiden-Reifen ergeben ein Bund
Der Weidenstock wird mit Deßel und Reißbock in zwei Stücke gespalten – quasi längs aufgerissen, daher die Berufsbezeichnung – und dann liebevoll mit dem Tochtmesser bearbeitet, bis beide Hälften gleich dick sind. Nach einem erneuten Wasserbad lassen sich die Bänder geschmeidig biegen. Dann bekommen sie in Biegemaschine und Setzscheibe ihren finalen Schliff. 48 oder 24 solcher Reifen bilden ein Bund.
Unzählige geschälte Weidenstöcke warten auf dem Dachboden der Scheune auf ihren Einsatz. Es werden Ringe beispielsweise aus „vier oder fünf, acht oder sechs Fuß“ großen Weiden erstellt. Sechs Fuß entsprechen gut 1,83 Metern.
Zwölf Millionen Reifen wurden zu Spitzenzeiten produziert – im Jahr
In der Hochphase dieses Handwerks, das sich Anfang des 19. Jahrhunderts etabliert hat und etwa in den 1960er-Jahren mit dem industriellen Fortschritt sein schleichendes Ende fand, sollen gut zwölf Millionen einzelner Reifen pro Jahr in der Haseldorfer Marsch produziert worden sein.
Mehr aus der Region
- Illegaler Kahlschlag in Haseldorfer Marsch? Gemeinde lässt Klein-Biotop abholzen
- Geld für Pinneberger Projekte: Zwei Orte erhalten zusammen 1,5 Millionen Euro
- Kampf um den Horst: Stress bei Störchen in Pinneberg - Rückkehr so früh wie nie
Sie selbst hätten es aber nicht genau nachgezählt, meint die gut gelaunte Senioren-Gruppe. Damals habe es bestimmt allein etwa 20 Haushalte in Hetlingen gegeben, die ausschließlich diese Fassbänder gefertigt hätten. Im Dorfteich hätten massenweise abgeschlagene Weidenstöcke gestanden.
Wann könnte denn im Jahr 2024 die Massenproduktion in Hetlingen wieder aufgenommen werden, wenn der allgemeine Fokus auf Naturmaterialien immer weiter steige? Dies sei mit dieser Teamstärke doch gar nicht möglich, ist die launige Antwort. Es bleibt weitgehend ein Hobby und eine Hommage an das Bandreißer-Handwerk.
Für Auftritte bei Festen gibt es für das kleine Hetlinger Team immerhin eine kleine Aufwandsentschädigung – intern „Biergeld“ genannt. Gegen Spenden können auch schöne Weiden-Basteleien den Besitzer wechseln. Umliegende Gärtnereien nutzen den Naturstoff inzwischen auch wieder gern für Gestecke. Und auch in Privatgärten werden die Weidenreißereien wieder beliebter. Das Bandreißer-Handwerk wird also noch gebraucht.
„Heini“ Brunckhorst hat 1954 eine Lehre als Bandreißer abgeschlossen
Heinrich „Heini“ Brunckhorst (85) ist der einzige Hetlinger Bandreißer, der diesen Beruf sogar früher erlernt hat und viele Jahre in Firmen solcher Art gearbeitet hat. „1954 habe ich die Ausbildung gemacht. In den 60er-Jahren wurde die Nachfrage immer geringer“, erinnert er sich. Unter anderem, weil Plastik seinen Siegeszug antrat und beispielsweise längst auch keine Butter mehr in Holzfässern transportiert wurde.
„Knochenarbeit“ sei diese Tätigkeit damals gewesen, wenn zum Beispiel im Akkord im Winter die Weiden geschlagen werden mussten. Bei Wind und Wetter hätten sie fünf Tage geschuftet. Und sonnabends ging es während der Lehre für ihn dann auch noch in die Berufsschule nach Uetersen.
„Danach musste ich noch bei uns den Hof und die Werkstatt ausfegen, während mein Cousin schön Fußball gespielt hat“, sagt der Hetlinger Bandreißer-Veteran. Immerhin: Nach seiner Beschwerde musste der Cousin dann ebenfalls mithelfen..
Hetlinger Bandreißer sind auch beim Schachblumenfest vor Ort
Brunckhorst ist immer noch mit Feuereifer bei der Sache, das ist in der kleinen vielleicht 20 Quadratmeter großen Werkstatt voller Stolperfallen für Besucher, jederzeit spürbar. Und die anderen? „Manchmal habe ich auch nicht so Bock drauf, aber generell ist das mein Hobby, das mir Spaß macht. Man trifft sich hier – und hat dann ja auch immer was zu erzählen“, sagt Müller.
Die Veranstaltungstermine der letzten Bandreißer ihrer Art stehen für dieses Jahr auch schon fest: Los geht es mit dem Heimspiel beim Schachblumenfest in Hetlingen am Sonntag, 21. April. Am Sonntag, 5. Mai, ist die Bandreißer-Crew dann beim Landmarkt auf Schloss Gottorf dabei. In der eigenen Werkstatt ist das Stöckebasten am Sonntag, 26. Mai, von 10 Uhr an angesagt.
Es folgt am 9. Juni der Tag der Schleswig-Holsteiner-Lüüd im Freilichtmuseum Molfsee. Auch beispielsweise auf dem Hafenfest Kollmar (15.9), dem Erntedank-Umzug in Holm (6.10) oder beim Gottesdienst in Hetlingen (13.10) sind die Bandreißer aktiv.