Haseldorf. Ein Gewerbegebiet soll entstehen, Einwohner wollen Natur schützen. Ein beauftragtes Unternehmen hat nun ungewollte Fakten geschaffen.

Dieser Schreck ist Jenny Puchner gehörig in die Glieder gefahren. Um die Mittagszeit wird die Haseldorferin, die im Siedlungsgebiet Brüttenland wohnt, unsanft aus ihrem Idyll gleich neben dem Klein-Biotop am Kamperrege, direkt an der Ortsgrenze der Gemeinde, gerissen.

Der Lärm von Baufahrzeugen dringt herüber, Unheil schwant ihr. Mit Recht. „Um zwölf Uhr ist ein Kettenbagger angerollt und hat einen breiten Streifen um die Naturfläche gerodet“, berichtet die empörte Anliegerin. Nicht einfach nur irgendeine Naturfläche, wie die Haseldorferin – und nicht nur sie – befindet.

Die Anwohner fürchten um die ihnen lieb gewonnene Artenvielfalt in dem Gehölz

„Hier gibt es noch ein bisschen wilde Natur – eine Fläche, die sich seit Jahrzehnten entwickeln konnte. Ungestört hat sich in dieser Dauervegetation eine vielfältige Vogelwelt entwickelt. Etliche Arten sind Dauergäste und brüten hier, andere wie die Wacholderdrossel sind Wintergäste, halten Rast und finden reichlich Futter durch die nicht geernteten Äpfel“, berichtet Jenny Puchner.

Die Anwohnerin zählt weitere Dauergäste dieser grünen Insel in ihrer direkten Nachbarschaft auf: „Hier befinden sich die Kinderstube sowie ein Rückzugsgebiet für Rehe. Auch ein Dachs hat sich in diesem alten Apfelhof angesiedelt. Feldhase, Eichhörnchen, Marder, Igel und so einige Tiere mehr sind heimisch geworden.“

Nur ein Wassergraben trennt die nächsten Anlieger von dem umstrittenen Gebiet

Nachbar Thorsten Richter und seine Ehefrau sind ebenfalls von den Ereignissen im wörtlichen Sinn überrollt worden. „Wir waren zu dem Zeitpunkt in Wismar und haben von Nachbarn Fotos des Geschehens geschickt bekommen“, berichtet Richter, dessen Grundstück an die südwestliche Ecke des Bewuchsgebietes grenzt, nur durch einen Wassergraben getrennt. „Ich bin traurig über das Ergebnis und wütend über die Art und Weise.“

Die Haselau zugewandte Seite des geplanten Baugrunds mit der frisch geschlagenen Schneise (rechts). Weiter rechts im Hintergrund die gleichfalls mit Bäumen und Sträuchern bewachsene Ausgleichsfläche, die unangetastet bleiben soll.
Die Haselau zugewandte Seite des geplanten Baugrunds mit der frisch geschlagenen Schneise (rechts). Weiter rechts im Hintergrund die gleichfalls mit Bäumen und Sträuchern bewachsene Ausgleichsfläche, die unangetastet bleiben soll. © Ulrich Stückler | Ulrich Stückler

Ursache dieser Maßnahme ist die geplante Entwicklung der Gemeinde Haseldorf, die genau an Stelle dieses alten Apfelgartens auf einer Fläche von rund 12.000 bis 13.000 Quadratmetern ein Gewerbegebiet entstehen lassen möchte. „Die örtlichen Unternehmen melden seit zehn Jahren eine großen Bedarf an, den wir nicht befriedigen können“, sagt Daniel Kullig, seit mehr als zwei Jahren Bürgermeister der Gemeinde Haseldorf. „Das hatte in der Vergangenheit sogar zur Folge, dass Unternehmen abgewandert sind.“

Landschaftsschutzgebiete setzen den Erweiterungsvorhaben von Haseldorf enge Grenzen

Doch der Entwicklung des Ortes sind enge Grenzen gesteckt. Die malerische Lage Haseldorfs inmitten der Marsch ist Fluch und Segen zugleich. „Haseldorf ist komplett umzingelt vom Landschaftsschutzgebiet; das gilt auch für vermeintlich leere, meist als Acker genutzte Flächen“, erklärt Kullig.

Tiefe Spuren im Grund zeugen vom Einsatz der schweren Baufahrzeuge. Links der Wassergraben zwischen Weidengürtel und altem Apfelgarten.
Tiefe Spuren im Grund zeugen vom Einsatz der schweren Baufahrzeuge. Links der Wassergraben zwischen Weidengürtel und altem Apfelgarten. © Ulrich Stückler | Ulrich Stückler

Gleich zu Beginn seiner Amtszeit war der Gemeindevorsteher auf die Gewerbeproblematik gestoßen worden und hatte sich in großem Rahmen damit befasst. „Im Januar 2022, als ich gerade acht Wochen im Amt war, habe ich in einer Videokonferenz mit Unterer Naturschutzbehörde, dem Team der Regionalplanung des Kreises Pinneberg sowie der Bauabteilung der Amtes Geest und Marsch Südholstein und meinem Bauausschussvorsitzenden geeignete Flächen besprochen“, erinnert sich Kullig. „Die Fläche, die dann letztlich dabei herauskam, ist Kamperrege.“

Der alte private Apfelgarten ist weniger schützenswert als ein benachbarter Acker

Aber wie kann ein dicht bewachsenes Areal, das sich nach 20 Jahren brach liegender Eigenentwicklung in ein kleines Naturreservat verwandelt hat, weniger schützenswert sein als zum Beispiel eine profane Ackerfläche? „Diese Fläche sieht zwar wie ein schützenswerter Bereich aus, aber sie ist kein Landschaftsschutzgebiet. Die Regionalplanung und unsere Naturschutzbehörde sagen, dass sich diese Fläche für ein künftiges Gewerbegebiet grundsätzlich eignen würde“, sagt Kullig.

Auf diesem Streifen zwischen Kamperrege und Apfelgarten wächst normalerweise auch Röhricht, nun fuhr hier der Bagger durch.
Auf diesem Streifen zwischen Kamperrege und Apfelgarten wächst normalerweise auch Röhricht, nun fuhr hier der Bagger durch. © Ulrich Stückler | Ulrich Stückler

Aber wie kann das sein? „Das liegt daran begründet, dass wir es hier mit einem alten Apfelhof zu tun haben, den der jetzige Eigentümer seit über 20 Jahren nicht mehr bewirtschaftet“, erläutert der Bürgermeister. „Rein theoretisch könnte der Eigner auf seinem Privatgrund jederzeit unter Beachtung des dafür zulässigen Rahmens alles roden und einen neuen Apfelgarten oder Ähnliches anpflanzen.“

Die Schaffung von Fakten in einem laufenden Verfahren erbost die Anwohner

Doch bevor überhaupt an die Verwirklichung der Pläne für ein Gewerbegebiet gedacht werden könne, gelte es, eine Reihe von Gutachten für die Umsetzung der nötigen Bauschritte einzuholen. Und darin liegt der Groll von Jenny Puchner und Thorsten Richter begründet. „Wir befinden uns in einem laufenden Verfahren und nun rücken Bagger an und schaffen Fakten. Das ist ein Unding“, empören sich beide einhellig.

Auch direkt am Kamperrege wurden schon Bäume gefällt. Im Hintergrund die Wohnhäuser der Siedlung im Brüttenland.
Auch direkt am Kamperrege wurden schon Bäume gefällt. Im Hintergrund die Wohnhäuser der Siedlung im Brüttenland. © Ulrich Stückler | Ulrich Stückler

Was die beiden Haseldorfer so nicht wissen oder glauben mögen; zumindest zu diesem Zeitpunkt haben sie ihr Gemeindeoberhaupt ganz auf ihrer Seite. Um für das anstehende Gewässergutachten die entsprechenden Gräben vermessen zu können, hatte eine durch das Amt beauftragte Baufirma ebendiese Gräben freilegen sollen. „Freilegen“ – offenbar ein Begriff, der zu viel Interpretationsspielraum lässt.

Der Einsatz schweren Geräts überrascht den Bürgermeister, er stoppt die Arbeiten sofort

„Ich bin davon ausgegangen, dass diese Arbeiten mit Manpower vorgenommen würden“, sagt Kullig. „Niemals hätte ich in dieser Phase der Entscheidungsfindung gewollt, dass die Arbeiter mit schwerem Gerät in das Gebiet einfahren. Das zudem durch einen Streifen, in dem Gräser wachsen, die als Röhricht bezeichnet werden und deretwegen das Land diesen Streifen auch ohne Beschau als Biotop ausgewiesen hatte. Solche Gewächse findet man zwar überall in der Marsch, wo gelegentlich Wasser steht; aber es geht überhaupt nicht, dass da der Bagger rüberrollt.“

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Mit Kenntnisnahme der so nicht gewollten Arbeiten hatte Kullig über das Amt die Bauarbeiter unverzüglich zurückpfeifen lassen. Nach drei langen Stunden, die zum Beispiel an der Westseite für zwei Reihen alter Apfelbäume das Aus bedeutet hatten. „Und das alles noch vor dem Erreichen des Abschnitts, um den es beim Gewässergutachten besonders gehen soll“, meint der Bürgermeister.

Der noch nicht freigelegte Graben ist wichtig für die Sicherung der Siedlung Brüttenland

Denn genau zwischen Siedlung und den alten Apfelbäumen befindet sich südlich ein Wassergraben mit Weidenbewuchs. „Auch ein ganz tolles und wichtiges Biotop“, wie Puchner und Richter regelmäßig von ihren Grundstücken aus beobachten können. „Aber dieser Graben ist essenziell für die Absicherung der Siedlungsgrundstücke und muss durch das Gutachten bewertet werden“, sagt Kullig. „Der Graben ist jedoch so dicht bewachsen und teilweise durch Weiden zugestürzt, dass Messarbeiten besonders nun nach Beginn der Brutsaison mit dem Schutzzeitraum seit 1. März auch nur sehr erschwert stattfinden können.“

Immerhin würden diese Weiden mit Graben zum Beispiel auch nach bisherigem Ideenstand weiterhin als Pufferzone zwischen Siedlung und künftigem Gewerbegebiet dienen sollen. „Und selbstverständlich werden bei fortschreitender Planung auch Themen wie Lärm- und Anwohnerschutz ganz obenan stehen“, betont Kullig.

Am Dienstag und Mittwoch tagen Ausschüsse, bei den auch das Gebiet Kamperrege thematisiert wird

Dennoch bleiben angesichts des jüngsten Ereignisses viele Fragen offen. Fragen, die auch am kommenden Dienstag im Ausschuss für Sport, Kultur, Soziales und Umwelt sowie Mittwoch im Bauausschuss der Gemeinde Haseldorf mit Sicherheit angesprochen werden. Beide Gremien tagen um jeweils 19.30 Uhr im „Frau Miller“ (Hauptstraße 32). Thorsten Richter: „Da werden wir sehr aufmerksam zuhören und uns bestimmt auch zu Wort melden.“