Uetersen. Enkel entdeckt in Unterlagen der geliebten französischen Großmutter verborgene Spuren und erfährt mehr aus Archiven im Kreis Pinneberg.

Gern lauschte der Junge den Geschichten seiner Großmutter. Auch aus der Kriegszeit berichtete sie, über Bomben und Tote. Doch erst jetzt, 15 Jahre nach ihrem Tod, versteht Patrick Johnson, warum „Grandma“ sich beharrlich weigerte, noch einmal ihre alte Heimat in Frankreich zu besuchen. Zwei Archivare aus Uetersen und Pinneberg brachten Licht ins Dunkel der Vergangenheit.

„Als ich nach ihrem Tod ihr Haus aufräumte, fand ich ihre Lebensgeschichte, die sie für unsere Familie aufgeschrieben hatte, einschließlich der schockierenden Enthüllung, dass sie während des Krieges in Deutschland gewesen war“, erzählt Patrick Johnson (45), der Enkel, in einer langen E-Mail, die er auf Bitten des Hamburger Abendblattes geschickt hat. Der Enkel lebt mit seiner kleinen Familie in Reno (Bundesstaat Nevada). Er freut sich, über die Geschichte erzählen zu können. Er stand seiner Grandma sehr nah: „Sie war eine bemerkenswerte Frau.“

Zweiter Weltkrieg: 18 Jahre alt, als die Deutschen in Frankreich die Heimat besetzten

Das Mädchen mit dem Vornamen Renee (den Nachnamen verschweigen wir in Absprache mit der Familie) wurde 1922 in einem Ort in den Vogesen (Elsass-Lothringen) geboren und zog als Zehnjährige mit ihrer Familie nach Dijon. Sie war 18 Jahre alt, als die Deutschen 1940 in Frankreich einmarschierten. Patrick Johnson erinnert sich: „Als ich aufwuchs, hörte ich viele ihrer Geschichten und Erinnerungen an den Krieg, zum Beispiel die Flucht aus Dijon.“

Doch drei Monate später kehrte die Familie zurück. Es gab wenig zu essen und alle übernahmen Jobs, die sie finden konnten. Hauptsache arbeiten. Die Großmutter erzählte, wie sie gesehen habe, wie Menschen durch Bombenangriffe starben.

Auswandern in die USA, um geliebten Soldaten zu heiraten

„Im Sommer 1945 lernte sie meinen Großvater kennen, der ein amerikanischer Soldat war“, berichtet Patrick Johnson. Bald darauf kehrte er in die USA zurück, und sie schrieben ein paar Jahre lang Briefe. 1948 zog die junge Französin nach Spokane im Bundesstaat Washington. „Zum einzigen Mal in ihrem Leben saß sie in einem Flugzeug“, erzählt der Enkel. Das Ziel: Renee wollte ihren geliebten Soldaten heiraten und in den USA leben.

„Sie kam mit einem Koffer an und sprach nicht einmal Englisch. Sie sprachen beide fließend Deutsch, sodass meine Großeltern so kommunizierten, bis sie Englisch lernte“, schreibt Patrick Johnson. Das Paar bekam eine Tochter, die Mutter von Patrick, und gemeinsam baute sich die Familie ein schönes Leben auf.

Grandma wollte nie wieder ihre alte Heimat besuchen

„Obwohl wir meine Großmutter ermutigten, ihre alte Heimat in Frankreich zu besuchen, kehrte sie nach ihrer Abreise 1948 nicht mehr zurück. Sie hat immer gesagt, dass es zu viele schlechte Erinnerungen an den Krieg gibt. Das war alles, was wir wussten, als sie noch lebte“, heißt es in der Mail.

Erst nach ihrem Tod wollte die alte Dame mehr über die Kriegszeit verraten. „Während der deutschen Besatzung waren Jobs rar, und sie musste alles tun, was sie finden konnte“, berichtet der Enkel aus dem entdeckten Schreiben. „Eines Tages lief sie von zu Hause weg, ohne einen Plan zu haben.“ Am Bahnhof in Dijon traf sie auf deutsche Soldaten, die ihr erzählten, dass sie in Deutschland arbeiten dürfe. Gemeinsam mit anderen jungen Frau wurde Renee in einen Zug gesetzt, der nach Essen in Deutschland fuhr.

Erinnerung an die Bombennächte in Deutschland

Die Großmutter beschrieb in ihrer Erinnerung für die Familie ihre Zeit in Deutschland als „glücklich“. Sie fand gute Freundinnen und deutsche Freunde, die sie freundlich behandelten, da sie schnell fließend Deutsch sprach. Enkel Patrick weiß nun auch, dass die Bomben und Toten Erinnerungen aus der Zeit in Deutschland und weniger in Frankreich waren.

Warum die Großmutter dieses Bild aus ihrer Uetersen Zeit aufbewahrte, weiß der Enkel nicht.
Warum die Großmutter dieses Bild aus ihrer Uetersen Zeit aufbewahrte, weiß der Enkel nicht. © Familie Johnson/Stadtarchiv Uetersen | Familie Johnson/Stadtarchiv Uetersen

Als der Krieg 1945 zu Ende war, wurde die junge Frau per Lastwagen und Zug nach Frankreich zurückgebracht. Das war alles, was sie aufgeschrieben hatte und lieferte keine Informationen darüber, wo sie in Deutschland gewesen war und was sie getan hatte. Doch damit wollte sich der Enkel nicht zufriedengeben.

Spuren verdichten sich dank der Archive Pinneberg und Uetersen

Vor ein paar Jahren begann Patrick Johnson an mehrere Archive in Frankreich und Deutschland zu schreiben. Doch aus Dijon und Essen war nichts zu erfahren. Danach kontaktierte der wissbegierige Amerikaner Archive in Frankreich und Deutschland, die speziell Informationen aus dem Krieg sammeln. „Oft hatten sie keine Informationen, und manchmal vergingen Wochen und Monate, bis ich eine Antwort erhielt.“

Die Aufnahme ist im Juli 1943 entstanden.
Die Aufnahme ist im Juli 1943 entstanden. © Familie Johnson/Stadtarchiv Uetersen | Familie Johnson/Stadtarchiv Uetersen

„Eines Morgens wachte ich auf und las eine E-Mail von einem Archiv in Frankreich“, erzählt Patrick Johnson. Endlich hatte er deutsche Dokumente, darunter medizinische Formulare, einen Reisepass, eine Arbeitsvereinbarung und ein anderes Formular, das dokumentierte, dass die Französin eine „Freiwillige“ gewesen sei. Zum ersten Mal stieß der Enkel auf die Orte Pinneberg und Uetersen sowie die Unternehmen Nordmark und Pinnauwerke.

Archivarin Ute Harms half dem Enkel bei der Familiengeschichte

„Auf dem medizinischen Formular, das Grandma nach ihrer Rückkehr nach Frankreich ausfüllte, stand Uetersen als letzter Ort in Deutschland, an dem sie sich aufgehalten hatte“, schreibt Patrick Johnson. Daraufhin setzte er sich mit Johannes Seifert aus dem Museum in Pinneberg in Verbindung. Der wiederum brachte Dr. Ute Harms aus Uetersen ins Spiel.

Dr. Ute Harms, Leiterin des Archivs der Stadt Uetersen, zeigt die Karte mit den Daten der französischen Fremdarbeiterin in der Kriegszeit. Das Stadtarchiv, Kleiner Sand 23, ist jeden Freitag von 10 bis 11.30 Uhr geöffnet. Terminabsprachen gern unter 04122/9772120.
Dr. Ute Harms, Leiterin des Archivs der Stadt Uetersen, zeigt die Karte mit den Daten der französischen Fremdarbeiterin in der Kriegszeit. Das Stadtarchiv, Kleiner Sand 23, ist jeden Freitag von 10 bis 11.30 Uhr geöffnet. Terminabsprachen gern unter 04122/9772120. © Michael Rahn | Michael Rahn

Aus dem Uetersener Archiv bekam der Enkel eine Kopie des Ausländerausweises seiner Großmutter und viele weitere Informationen. Renee war am 10. Oktober 1941 in Deutschland angekommen, hatte danach aber wohl ausschließlich in Uetersen gelebt. Sie hatte sich zwar anfangs freiwillig gemeldet, zählte aber zur „Ausländischen Zwangsarbeitertruppe“ oder zum STO (Service du travail obligatoire)-Programm.

Junge Französin arbeitete für Rüstungsunternehmen in Uetersen

Die junge Französin arbeitete für die Pinnauwerke GmbH, einem Rüstungsunternehmen und Ableger der Drägerwerke in Lübeck. Zusammen mit 135 anderen ausländischen Arbeitern stellte sie laut Unterlagen Gasmasken und Filter her. In ihrem Dokument heißt es auch, sie sei eine „Papierarbeiterin“ und „Maschinenarbeiterin“ gewesen.

„Die Pinnau-Werke GmbH Uetersen muss eine Tochtergesellschaft der ‚Feldmühle Papier- und Zellstoffwerke AG Werk Uetersen‘ gewesen sein“, hat Erhard Vogt ermittelt. Der Handelslehrer lenkt die Arbeit der Geschichtswerkstatt der SPD Uetersen und ist im Förderverein „Ge­gen das Ver­ges­sen – Spu­ren­su­che im Kreis Pin­ne­berg und Um­ge­bung 1933-1945“ aktiv. Die personale Übereinstimmung bei Geschäftsführung und Vertretung beider Firmen spricht aus Vogts Sicht dafür.

Gemeinsam mit anderen untergebracht in Zwangsarbeitereinrichtung

Untergebracht war die junge Französin im Hotel „Deutsches Haus“ an der Kirchenstraße, das 2012 abgerissen worden ist. Laut Spurensuche „wa­ren an­fangs circa 80 fran­zö­si­sche, spä­ter circa 85 pol­ni­sche und 80 so­wje­ti­sche Zwangs­ar­bei­te­rin­nen so­wie fünf bis zehn ju­go­sla­wi­sche un­ter­ge­bracht wor­den“. Das La­ger un­ter­stand der NS­DAP-Orts­grup­pe Ue­ter­sen.

Im Deutschen Haus an der Kirchenstraße, hier eine Postkarte aus der Nachkriegszeit, waren während des Krieges ausländische Arbeiter untergebracht, auch die junge französische Fremdarbeiterin.
Im Deutschen Haus an der Kirchenstraße, hier eine Postkarte aus der Nachkriegszeit, waren während des Krieges ausländische Arbeiter untergebracht, auch die junge französische Fremdarbeiterin. © Familie Johnson/Stadtarchiv Uetersen | Familie Johnson/Stadtarchiv Uetersen

Gesichert ist laut Dokumenten, dass die Französin am 30. Mai 1945 nach Lille in Frankreich zurückkehrte. Enkel Patrick schreibt: „Ich vermute, dass sie von ihren französischen Kollegen als Kollaborateurin behandelt wurde, als sie nach Frankreich zurückkehrte. Ich glaube, das ist der Grund, warum sie nie nach Frankreich zurückgekehrt ist.“

Enkel aus den USA möchte in ein, zwei Jahren Uetersen kennenlernen

Patrick Johnson, der heute 45 Jahre alt ist, in einem Lebensmittelgeschäft arbeitet und gemeinsam mit seiner Frau einen kleinen Sohn großzieht, hofft, in ein oder zwei Jahren Uetersen zu besuchen und sich weiter auf Spurensuche begeben zu können. Er sagt: „Es wäre eine unglaubliche Erfahrung.“

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Sein Respekt und die Liebe zur Großmutter ist in all den Jahren noch weiter gewachsen. Der Enkel glaubt, dass die meisten Menschen heute verstehen würden, dass seine Grandma „keine Nazi-Sympathisantin oder Kollaborateurin“ war. Er sagt: „Vielmehr war sie einfach ein junges Mädchen, das aus einer schlimmen häuslichen Situation herauskommen und inmitten eines schrecklichen Krieges einfach essen und überleben wollte.“