Pinneberg/Itzehoe. Staatsanwalt plädiert auf versuchten Totschlag, die Verteidigung fordert Freispruch wegen Notwehr. Wann das Urteil verkündet wird.
Knapp vier Jahre Haft – oder Freispruch? Die Vorstellungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung – sie könnten unterschiedlicher nicht sein, was den beinahe tödlichen Messerstich vom Pinneberger Bahnhof angeht.
Im Prozess gegen Jamal H. (22), der die Attacke vom 6. Juli 2022 vor dem Landgericht Itzehoe eingeräumt hat, standen am späten Freitagnachmittag die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidigung an. Zuvor hatte der Angeklagte, gegen den die Schwurgerichtskammer bereits seit dem 3. Januar verhandelt, ausführlich zu seinem Lebenslauf Stellung genommen.
Angeklagter äußert sich zu kurz vor Prozessende seinem Lebenslauf
In Hamburg geboren, in Pinneberg mit Eltern und kleiner Schwester aufgewachsen, die Grundschule besucht, dann das Gymnasium. Allerdings nur kurz. Nach dem bei dem Angeklagten die Diagnose ADHS gestellt wurde, warf ihn das aus der Bahn. Es folgte der Übertritt auf eine Stadtteilschule, der Hauptschulabschluss, eine Tätigkeit als Bettentransporteur im Krankenhaus und dann „eine antriebslose Zeit“, wie es der 22-Jährige selbst nennt.
Als sich Jamal H. berappelt und eine Lehrstelle im Straßen- und Tiefbau in Aussicht hatte, machte er sich alles mit der Messerattacke zunichte. Wie die rechtlich zu bewerten ist, darüber streiten sich die Anklagebehörde und die Verteidiger Lino Peters sowie Uwe Maeffert seit dem ersten Verhandlungstag.
Prozess nach Messerstich am Bahnhof: Staatsanwaltschaft sieht versuchten Totschlag als erfüllt an
Die Staatsanwaltschaft hat versuchten Totschlag, tateinheitlich begangen mit einer gefährlichen Körperverletzung, angeklagt – und ist dabei im Plädoyer auch geblieben. Unstrittig ist, dass der Tat im Eingangsbereich des Bahnhofs ein heimlicher Musikvideodreh vorausgegangen ist. Der Pinneberger Aaron N. hatte einige Freunde und Bekannte spätabends im Parkhaus des Bahnhofs um sich geschart. Man trank zum Teil harten Alkohol und performte zu einem selbst geschriebenen Rapsong.
Das spätere Opfer Mohmen A. (damals 19) war bei dem Videodreh zugegen, der Angeklagte nicht. Er stieß gemeinsam mit einem Freund erst später zur Gruppe, als diese frühmorgens am Bahnhof auf einen Zug wartete. Beide hatten zuvor ebenfalls Alkohol konsumiert.
Opfer wollte verhindern, dass der Angeklagte in eine Auseinandersetzung eingreift
Der Freund des Angeklagten suchte Streit – und ließ sich in eine körperliche Auseinandersetzung mit einem der anderen Beteiligten verwickeln. Als Jamal H. in diese Auseinandersetzung eingreifen wollte, hielt ihn Mohmen A. davon ab – offenbar mit Gewalt. So nahm er ihn, darin sind sich Staatsanwaltschaft und Verteidiger einig, einmal kurz in den Schwitzkasten.
Irgendwann in der Folge griff der Angeklagte, der seit Mitte Juli 2022 in Haft sitzt, zum mitgebrachten Messer und rammte es Mohmen A. wuchtig in den Bauch. Als Folge wurde die Bauchspeicheldrüse verletzt, der Darm perforiert und auch eine Arterie in Mitleidenschaft gezogen. Gedärme quollen aus der Wunde, es kam zu starken Blutungen nach innen. Nur eine Notoperation rettete das Leben des Opfers.
Schwurgerichtskammer hat in elf Monaten zahlreiche Zeugen vernommen
Die Kammer hatte während des elfmonatigen Verfahrens alle Tatzeugen vernommen. Doch kaum einer der jungen Männer konnte dem Gericht weiterhelfen. Einige machten Erinnerungslücken durch Alkohol geltend, andere wollten die beinahe tödliche Auseinandersetzung schlicht nicht mitbekommen haben.
Die Angaben, die letztlich gemacht wurden, widersprachen sich zum Teil. Die Staatsanwaltschaft will ihre Verurteilung insbesondere auf die Angaben des Hamburger Musikproduzenten Andy T. (26) stützen, der an mehreren Prozesstagen ausgesagt hat und als Kronzeuge der Anklage gilt. Die Verteidigung hält ihn für völlig unglaubwürdig.
Während das Opfer Mohmen A. ein Aussageverweigerungsrecht in Anspruch nahm, hatte der Angeklagte am 16. Prozesstag im Mai eine schriftliche Einlassung eingereicht. Demnach habe Mohmen A. die Fäuste erhoben, ihn mehrfach geschubst und in den Schwitzkasten genommen.
Verteidiger halten eine Notwehrsituation für erfüllt, die Staatsanwaltschaft nicht
Er habe sich bedroht gefühlt, den Kontrahenten gewarnt und dann einmal zugestochen. „Es war der Notwehrwille meines Mandanten gegeben“, so Verteidiger Lino Peters. Es habe zwischen beiden ein aggressiver Kampf stattgefunden, auf den sich Jamal H. nicht einlassen musste. Sein Verhalten sei weder gutzuheißen noch und moralisch gerechtfertigt gewesen, juristisch dagegen schon. Daher beantragten die Verteidiger Freispruch.
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Absehbar erscheint jedoch, dass die Kammer dem nicht folgen wird. Versuche der Verteidigung, den Haftbefehl gegen Jamal H. aufzuheben, hatten die Richter abgeblockt.
Daher haben die Verteidiger außerdem hilfsweise beantragt, dass im Falle eines Schuldspruchs eine Strafe von maximal zwei Jahren verhängt wird, die zur Bewährung ausgesetzt werden kann. „Ein solches Urteil müsste unserem Mandanten zumindest die Möglichkeit geben, zeitnah in Freiheit zu kommen.“
Verteidiger wollen Freispruch – oder alternativ eine Bewährungsstrafe
Ein derart mildes Urteil ist aus Sicht der Verteidigung möglich, weil es beim Versuch geblieben ist, der Angeklagte aufgrund seines Alkoholkonsums vermindert schuldfähig war und sich im Zuge des Täter-Opfer-Ausgleichs mit Mohmen A. verständigt hat. Auch eine Entschuldigung hat es gegeben, die vom Opfer auch angenommen wurde, wie die Verteidiger betonen. Außerdem trage Mohmen A. keine bleibenden Schäden davon.
Die Staatsanwaltschaft bewertet den Sachverhalt komplett anders. Anklägerin Maxi Wantzen machte deutlich, dass der Alkoholwert des Angeklagten zur Tatzeit nicht feststeht. Berechnungen einer Sachverständigen, laut derer Jamal H. zur Tatzeit 2,2 Promille gehabt haben könnte, würden allein auf seinen Angaben und denen seines Freundes beruhen, der wiederum selbst volltrunken war. Ein Überwachungsvideo zeige, dass der Angeklagte – wenn überhaupt – leicht angetrunken gewesen sei.
Prozess nach Messerstich am Pinneberger Bahnhof: Urteil soll am 13. Dezember fallen
Eine Notwehrsituation liegt aus Sicht der Anklage nicht vor. Das Opfer habe lediglich versucht, zu deeskalieren. Der Angeklagte habe das mögliche Ableben des Opfers durch sein Verhalten billigend in Kauf genommen, somit mit Eventualvorsatz gehandelt.
Er sei zudem voll schuldfähig. Daher fordert die Staatsanwältin eine Verurteilung zu drei Jahren und elf Monaten Gefängnis. Der Haftbefehl gegen Jamal H. solle aufrechterhalten werden. Welche Seite sich durchsetzt, will die Schwurgerichtskammer am 13. Dezember verkünden.