Uetersen. Gunter Demnig hilft mit, dass die Nazi-Verbrechen nicht vergessen werden. In dieser Straße liegen nun neue Messingsteine.
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, so lautet das Credo des deutschen Künstlers und Aktivisten Gunter Demnig. Seit den 1990er Jahren verlegt er – überwiegend vor Häusern, in denen jüdische Familien im Dritten Reich lebten, ehe sie in Konzentrationslager verschleppt und ermordet wurden – sogenannte „Stolpersteine“.
Er wolle, sagt Demnig, Millionen Menschen, die von den Nationalsozialisten entwürdigt und umgebracht wurden, ihre Namen und damit die Erinnerung an sie zurückgeben. Bis heute sind rund 90.000 Stolpersteine verlegt worden. Demnig war fast immer persönlich anwesend.
Stolpersteine in Uetersen: Künstler verlegt „größtes Mahnmal der Erde“
Uetersen besuchte er zum dritten Mal, diesmal die Bleekerstraße in der Nähe des Alten Friedhofs. Seine messing-glitzernden Mini-Mahnmale sollen diesmal erinnern an das Schicksal von drei toten Säuglingen, deren Mütter als Zwangsarbeiterinnen unter anderem in Rellingen ausgebeutet wurden.
Demnig verlegte Stolpersteine für die Mütter, sowie für Leo Lokot, Christel Matuszak und Zbiegniew Blazejewska. Jener war, wenn die Uhrzeiten in den Registereintragungen richtig sind, lediglich vier Stunden lang am Leben.
Mindestens 15 ausländische Kinder im Krankenhaus Bleekerstift kamen zu Tode
Zusätzlich wurde ein „Kopfstein“ verlegt, Symbol dafür, dass Zwangsarbeiterinnen aus dem Kreis Pinneberg im Bleekerstift, dem damaligen Krankenhaus Uetersens, entbinden mussten. Insgesamt sind die Namen von 15 ausländischen Kindern bekannt, die im Bleekerstift einen entsetzlich frühen Tod starben.
Das Bleekerstift wurde 130 Jahre nach seiner Einweihung anno 1874 geschlossen, ehe der gesamte Gebäudekomplex 2018 der Abrissbirne zum Opfer fiel. Heute steht dort eine Wohnsiedlung – und davor liegen nun sieben Stolpersteine.
Tote Neugeborene in Uetersen: Ärzte attestierten „Lebensschwäche“
Die Neugeborenen atmeten allesamt nur wenige Tage, manche lediglich ein paar Stunden, ehe sie zugrunde gingen. Die Diagnose der zuständigen Ärzte lautete stereotyp und lapidar: „Lebensschwäche“. Die Trauerredner bei der von der Geschichtswerkstatt des SPD-Ortsvereins Uetersen initiierten und von etwa 75 Bürgern besuchten Stolperstein-Zeremonie sprachen unisono davon, dass diese Todesdiagnose „kritisch gesehen werden dürfe“.
Eine äußerst behutsame Formulierung. Man darf gewiss auch mutmaßen, dass skrupellose Mediziner diese Säuglinge einfach sterben ließen, weil die es gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie nicht Wert waren, zu existieren.
90.000 Stolpersteine in 33 Jahren sind „größtes dezentrales Mahnmal der Erde“
Auch wenn jeder einzelne der 96 mal 96 mal 100 Millimeter messenden Steine nur relativ wenig Raum einnimmt, die Gesamtheit von 90.000 Stück hat der Daueraktion das inoffizielle Siegel „größtes dezentrales Mahnmal der Erde“ eingebracht. Ein Erfolg, mit dem Gunter Demnig kaum gerechnet haben dürfte, als er vor 33 Jahren die Löcher für die ersten Stolpersteine in den Boden grub.
Seine Intention bestand in erster Linie darin, den NS-Opfern, die in den Konzentrationslagern zu in die Haut tätowierten Nummern degradiert wurden, ihre Namen zurückzugeben. Das Bücken, um die Texte auf den Stolpersteinen zu lesen, soll eine symbolische Verbeugung vor den Opfern sein.
Judenvernichtung: Frühere Nachbarn behaupteten stets, nichts gewusst zu haben
Mit der Markierung der „Tatorte von Deportationen“, die häufig mitten in dichtbesiedelten, städtischen Bezirken lagen, wird gleichzeitig die gern vorgebrachte Behauptung früherer Nachbarn ad absurdum geführt, nichts von Deportationen und Judenvernichtung mitbekommen zu haben.
Demnig kritisierte ferner das bis dahin angewandte Konzept zentraler Gedenkstätten, die seiner Meinung nach in der Öffentlichkeit nicht ausreichend sichtbar seien. An solchen Mahnorten würden einmal pro Jahr von Honoratioren Kränze niedergelegt, während andere Menschen von diesen Vorgängen kaum etwas mitbekämen oder die Mahnmale mühelos ignorieren könnten.
Gunter Demnig: Es gibt auch Kritik an seiner Arbeit
Der gebürtige Berliner erhielt zwar im Laufe der Zeit zahllose Orden, Ehrungen und Lobpreisungen für sein Stolpersteinwerk, musste jedoch auch einige Kritik über sich ergehen lassen. So beanstandete Charlotte Knobloch, ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Verlegung der Pflastersteine sei eine Missachtung der Opfer: „Damit wird das Andenken von Menschen,“ so Knobloch, „die Verfolgung und Entwürdigung erleben mussten, bevor sie auf schreckliche Weise ermordet wurden, nochmals entwürdigt und sprichwörtlich mit Füßen getreten.“
Eine Interpretation, die Demnig nicht nachvollziehen kann. Von Angehörigen der Betroffenen habe er Derartiges nie gehört. Knoblochs Deutung schildere ihre private Meinung, mit der sie ziemlich allein dastehe. Das Gegenteil ihrer Darstellung sei richtig, meint Demnig.
Ein Stolperstein kostet 120 Euro – Gewinne fließen in Stiftung
Noch absurder findet der heute im Bundesland Hessen lebende 75 Jahre alte Aktivist den Vorwurf, die Stolpersteinverlegung sei für ihn ein einträgliches Geschäftsmodell. In Wahrheit fließe der Reingewinn in eine Stiftung. Die Herstellung eines rund zwei Kilo schweren Steins koste nach wie vor nur 120 Euro, was besonders in Anbetracht zuletzt erheblich gestiegener Rohstoffkosten zeige, dass es sehr eigenwillig ist, anstößige Profitabsichten zu unterstellen.
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Stolpersteine: Künstler verlegt inoffiziell „größtes Mahnmal der Erde“
Während er jahrzehntelang beinahe jeden Stein persönlich eingrub, bremsten ihn die Jahre der Pandemie. Mittlerweile treibt ihn der Ehrgeiz immer weniger an, immer und überall dabei sein zu wollen. Gerade im Moment allerdings ist er wieder ausgesprochen rege.
Unmittelbar vor der Aktion in Uetersen hatte der Künstler mit einem Stetson auf dem Kopf in Hamburg Stolpersteine verlegt. Gleich danach startete er den Motor seines Kleintransporters, um zur nächsten Installation im ostfriesischen Leer weiterzureisen. Die Aufgabe, die Gräueltaten der Nazis nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, lässt Gunter Demnig nicht ruhen.