Pinneberg. Hans-Erdmann Schönbeck war Zeitzeuge, überlebte das Blutbad. Autor Tim Pröse schrieb ein Buch über ihn. Er liest in Pinneberg.

Von seinem Fenster im elften Stock des Seniorenheims in München blickte Hans-Erdmann Schönbeck jeden Tag auf die schneebedeckten Alpen. „Es hat ihn an die Kälte in Stalingrad erinnert“, sagt Tim Pröse. Für den Münchner Autor und Journalisten einer der berührendsten Momente während der vielen Gespräche, die beide führten. „Das Heim lag auch in der Nähe des Flughafens. Täglich sah er Flugzeuge landen und starten.“

Pinneberg: Von dem Mann, der Stalingrad überlebte

Der Kondensstreifen, den Flugzeuge am Himmel hinterlassen, wurde für ihn buchstäblich zum Silberstreif am Horizont. 80 Jahre zuvor wurde Schönbeck selbst mit einem der letzten Flugzeuge aus der Hölle von Stalingrad gerettet, nur wenige Tage vor der Kapitulation – die sich in diesen Tagen jährt. Bei den Kämpfen um die Stadt, die heute Wolgograd heißt, kamen mehr als eine Million Menschen ums Leben. Sie gilt als psychologischer Wendepunkt des Krieges gegen die Sowjetunion.

Für sein Buch „Und nie kann ich vergessen“ hat Tim Pröse einen der letzten Überlebenden aus der Schlacht von Stalingrad ein halbes Jahr lang begleitet. Aus seinem berührenden Zeitzeugen-Porträts liest er am Sonntag, 22. Januar, von 18 Uhr an in der Pinneberger Drostei.

Hans-Erdmann Schönbeck, der im Oktober 2022 kurz nach seinem 100. Geburtstag starb, sprach viel über alte und neue Werte und über das Wunder, alt zu werden. Schönbeck – damals 19 Jahre alt – lag mit schwersten Verletzungen und erblindet mit einer letzten Kugel in der Pistole ohne Hoffnung in einem Erdloch vor Stalingrad. Doch er wurde gerettet, ausgeflogen – und überlebte.

Autor liest die Geschichte des Zeitzeugen in Pinneberg

Nun, fast 80 Jahre später – am 2. Februar 1943 endete die Schlacht um Stalingrad mit dem Sieg der Sowjetunion – blickt Schönbeck mit Tim Pröse zurück. Da war sein innerer Widerstand gegen Adolf Hitler. Die verpasste Gelegenheit, ihn zu töten, als Schönbeck nach der Schlacht in seine Nähe kommandiert wird. „Nach seiner Rettung aus Stalingrad wurde er ein Jahr lang im Lazarett versorgt. Anschließend wurde er in den Mauerwald nahe der Wolfsschanze versetzt“, so der Autor.

Bei einer Begegnung mit Hitler – Schönbeck soll ihm die Autotür aufhalten und trägt eine Waffe – kommt ihm der Gedanke, den Führer zu erschießen. Doch er lässt den Moment verstreichen. Er sympathisiert mit der Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Ein paar Nächte schläft er sogar neben der Bombe, mit der Graf Stauffenberg am 20. Juli 1944 ein Attentat auf Hitler verübt. Bekanntlich verfehlte die Bombe ihren Zweck.

„80 Jahre nach der Schlacht von Stalingrad ist das Thema Krieg in Europa wieder aktuell und bedrückend“, sagt der 52 Jahre alte Münchner. Das habe Schönbeck bedrückt. Dass sich im Augenblick wieder Schützengräben durch Europa ziehen und Menschen sinnlos getötet und vertrieben werden, sei eine erschreckende Parallele. Auf dem Weg nach Stalingrad, Schönbeck war damals Panzerfahrer, kam er in der Ukraine an den Orten vorbei, die heute von den Russen angegriffen werden. Damals war er der Aggressor.

Pinneberg: Lesung zu Stalingrad in der Drostei

„Schönbeck war sich seiner Schuld bewusst. Als gläubiger Christ konnte er ,und vergib uns unsere Schuld´ beim Beten nicht aussprechen. Er fand, dass seine Schuld nicht vergeben werden könne“, sagt Pröse. Schönbeck sei reflektiert gewesen, freundlich, offen und interessiert. „Er hat sich aber auch um seine Jugend betrogen gefühlt. Die persönliche Freiheit war ihm ein Leben lang wichtig.“ Sein Appell an die jüngere Generation: Sich die eigene Freiheit und die Möglichkeit, in Frieden zu leben, bewusst zu machen.

Lange Zeit habe Schönbeck, wie die meisten seiner Generation, nicht über die Gräuel des Krieges sprechen können. Doch all das beschäftigt ihn. Er macht Karriere in der Automobilindustrie und bleibt voller Demut und Dankbarkeit, gerettet worden zu sein. Mit dem großen Wissen, was Freiheit und Diktatur wirklich bedeuten, spricht er im hohen Alter über alte und neue Werte. Und das, was uns Menschen zusammenhält.

20 große Intervieweinheiten haben beide geführt. Jedes mal verließ Pröse den alten Mann, mit dem er sich angefreundet hatte, mit klopfendem Herz und der bangen Frage, ob er ihn wiedersehen wird. Doch Schönbeck erlebte noch die Veröffentlichung des Buches und feierte seinen 100. Geburtstag bei seinem Lieblingsitaliener. Ein paar Tage später schlief der wohl letzte Zeitzeuge der Schlacht um Stalingrad friedlich für immer ein.

Lesung: So 22.1., 18.00, Drostei, Dingstätte 23, Eintritt: 13 Euro/ erm. 8 Euro Schüler haben freien Eintritt, sollten sich jedoch anmelden. Karten gibt es in der Drostei (04101/210 30) und im Bücherwurm, Dingstätte 24.