Brande-Hörnerkirchen. Gegen alle Widerstände: die filmreife Geschichte der königlichen Hofärztin Henriette Hirschfeld-Tiburtius aus dem Kreis Pinneberg.
Sie ebnete gegen Widerstände und Vorurteile vor gut 150 Jahren den Frauen den Weg in die bis dato komplett männlich dominierte Zahnmedizin: Henriette Hirschfeld-Tiburtius, die erste promovierte und niedergelassene Zahnärztin Deutschlands. Ihr Weg dorthin war allerdings steinig. Denn Frauen blieb der Zugang zu Universitäten bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts verwehrt.
Pinneberger Geheimnisse: Die erste Zahnärztin Deutschlands
Für die Erfüllung ihres Traums musste Henriette Hirschfeld-Tiburtius ihr Heimatland 1867 verlassen, studierte Zahnmedizin in den USA und kehrte zwei Jahre später zurück. 1869 eröffnete sie nach dem Abschluss des Studiums die erste Praxis einer Zahnärztin in Berlin und brachte es später sogar zur Hofärztin der preußischen Prinzessin Viktoria.
Weitgehend unbekannt ist, dass die Vorreiterin aller deutschen Zahnärztinnen ihre Kindheit und Jugend in Brande-Hörnerkirchen im Kreis Pinneberg verbracht hat – als Tochter des Dorfpastors Daniel Pagelsen. Regionalhistoriker Helmut Trede hat ihre Geschichte nach einem entsprechenden Hinweis für einen Beitrag im Jahrbuch des Kreises für 2009 beschrieben. Wertvolle Informationen konnte er dafür einer Dissertation der Autorin Cécile Mack mit dem Titel „Das Leben der ersten selbstständigen Zahnärztin Deutschlands“ entnehmen.
Westerland widmet der Medizinerin den Henriettenweg
Henriette wird 1834 in Westerland als drittes Kind der Pastorenfamilie Pagelsen geboren – wo übrigens eine Straße, der Henriettenweg, nach ihr benannt ist. Als ihr Vater Daniel Pagelsen 1840 nach Hörnerkirchen an die dortige Pastorstelle versetzt wird, ist sie sechs Jahre alt. In ihren Aufzeichnungen schreibt sie über ihre Kindheit: „Ich machte mich im Hause nützlich, las Romane, glücklicherweise ohne Schaden davon zu haben, und verwendete viel zu viel freie Zeit auf feine Weißstickereien.“ Offenbar empfindet sie die Handarbeiten wie auch Hausarbeiten als eher uninteressant.
Beim Vater erhält Henriette mit ihren Geschwistern Schulunterricht, lernt Englisch und Französisch. Mehr als Grundlagenwissen wird dabei nicht vermittelt, vor allem den fehlenden Lateinunterricht, den ihre beiden Brüder erhalten, muss sie später in der Ausbildung mühsam nachholen. Der Vater wird von ihr wie folgt zitiert: „Ein Mädchen, von dem bekannt ist, dass es Latein kann, bekommt später sicher keinen Mann …“
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Schon früh reift der Entschluss, Zahnärztin zu werden
Den Ehemann bekommt sie mit 19, allerdings verlässt sie ihren Gatten Christian Hirschfeld 1860 aufgrund seiner Trunksucht und wird drei Jahre später von ihm geschieden. Sie ist damit nicht nur eine der wenigen geschiedenen Frauen dieser Zeit, sondern auch vollkommen mittellos. Als Henriette Hirschfeld zieht sie zu einer Freundin nach Berlin. Sie versucht sich als „Gesellschafterin“ durchzuschlagen und macht sich zunehmend Sorgen über ihre Zukunft. Da Henriette seit ihrer Kindheit häufig unter Zahnschmerzen leidet, deren Behandlung sie als unsanft und ungeschickt empfindet, beschließt sie, Zahnärztin zu werden.
Frauen durften bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings nicht an den Universitäten des preußischen Staates studieren, sie galten als „missliche und störende Erscheinung“ in den Vorlesungen. Ein amerikanischer Zahnarzt, der in Berlin lebte, rät ihr, es in an einem College in den USA zu versuchen.
Hirschfeld lernte am Pennsylvania College of Dental Surgery
Henriette büffelt ein Jahr lang Latein und Englisch – und nach unzähligen Bittgängen erhält sie sogar eine Zusicherung des preußischen Kultusministeriums, dass sie in Berlin zur zahnärztlichen Praxis zugelassen würde, „falls sie von einem im guten Ruf stehenden College ein Zeugnis über ein absolviertes Studium würde vorweisen können“, wie die „Ärzte-Zeitung“ 2009 in einem Artikel über sie schreibt.
Daher reist Henriette Hirschfeld im Oktober 1867 dank der finanziellen Unterstützung eines Freundes auf dem Dampfschiff „Allemania“ allein in die USA. Mit großer Beharrlichkeit erreicht sie, dass sie in Philadelphia am Pennsylvania College of Dental Surgery als zweite Frau in den USA zum Studium zugelassen wird. Nachdem sie die anfänglichen Widerstände überwunden hat, wird sie von ihren männlichen Kollegen, wie es heißt, „freundlich behandelt“. Ihre anatomischen Studien muss sie allerdings aus „Schicklichkeitsgründen“ noch einige Zeit am Women‘s Medical College machen.
Auch in den USA ist sie die erste Frau mit einem Abschluss am Dental College
Die Deutsche zeigt sich allen Herausforderungen gewachsen, lernt Englisch ebenso wie Anatomie und Physiologie, Operationstechniken und fertigt Laborarbeiten an. Nach zweijähriger Studienzeit schließt sie am 27. Februar 1869 (wenige Tage nach ihrem 35. Geburtstag) das Studium mit dem Titel „Doctor of Dental Surgery“ erfolgreich ab. Auch in den USA ist sie die erste Frau, die ein reguläres Studiums an einen Dental College abgeschlossen hatte.
Nach ihrem Abschluss kehrt Henriette Hirschfeld zurück nach Berlin, wo sie in einer Parallelstraße zu Unter den Linden (Behrenstraße 30/Ecke Charlottenstraße) ihre erste Zahnarztpraxis „für Frauen und Kinder“ eröffnet. Sie selbst nennt ihre Praxis „Zahnatelier“, was für Aufsehen sorgte. Von Anfang an setzt ein „starker Zustrom“ an Frauen und Kindern ein. Auch privat geht’s bergauf. 1872 heiratet sie ihren langjährigen Freund Karl Tiburtius, und zwar als angebliche Witwe, da ihre Scheidung in bürgerlichen Kreisen als „nicht akzeptabel“ totgeschwiegen wird ...
Ihr exzellenter Ruf als Zahnärztin bestätigt sich durch ihre Benennung zur Hofärztin der Kronprinzessin Viktoria, deren Kinder und gelegentlich auch deren Ehegatten. Und auch die gelegentlichen männlichen Patienten wissen nur Gutes über sie zu sagen (Zitat aus dem Jahr 1874): „Ich musste […] an unsere erste und einzige Zahnärztin denken, an die kleine, überaus zarte und schwächliche Frau Dr. Tiburtius, die mir erst kürzlich mit so großer Geschicklichkeit einen colossalen Backenzahn mittels Gasbetäubung ausgezogen hat.“
Mit dem deutschen Frauenkomitee zur Weltausstellung nach Chicago
Henriette Hirschfeld-Tiburtius hinterlässt nicht nur als Zahnärztin einen bleibenden Eindruck in der Gesellschaft. Sie arbeitet trotz zweifacher Mutterschaft weiter und denkt nicht daran, ihren Beruf aufzugeben – auch wenn dies mit den bürgerlichen Grundwerten ihrer Zeit nicht vereinbar ist. Doch damit nicht genug. Sie engagiert sich auch noch vehement für die wenig Begüterten, vor allem für Frauen und Kinder. 1876 gründet sie in einem Berliner Arbeiterviertel mit ihrer Schwägerin Franziska Tiburtius die erste Berliner „Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen und Kinder“.
1881 folgt die Gründung einer Pflegestation speziell für Frauen und Kinder in Henriette Hirschfeld-Tiburtius’ alter Wohnung an der Berliner Friedrichstraße. Sie engagiert sich zudem insbesondere für Frauen und Bedürftige in der Wohlfahrt und Krankenpflege und reist 1893 als Mitglied des deutschen Frauenkomitees zur Weltausstellung nach Chicago.
Helmut Trede schreibt im Jahrbuch: „Der mit ihrem Pioniergeist verbundene Beitrag zu Aufwertung der Stellung der Frau in der Gesellschaft der damaligen Zeit kann nicht hoch genug bewertet werden. Nach ihrem Tod erfuhr sie in zahlreichen Aufsätzen entsprechende Würdigung.“ Auch eine Gedenktafel in Berlin am heutigen Bundesinnenministerium, Behrensstraße/Ecke Glinkastraße, erinnert seit 1998 an die erste Zahnärztin Deutschlands.
„Wir verlangen zunächst nur die Gleichberechtigung zur Arbeit“
Ein Zitat von 1870/71 Henriette Hirschfeld-Tiburtius über weibliche Berufsaussichten und ihre emanzipatorische Arbeit aus der Dissertation von Cécile Mack hat Dentista, der Verband der Zahnärztinnen, in ein Kurzporträt übernommen: „Wir verlangen zunächst nur die Gleichberechtigung zur Arbeit, in der festen Zuversicht, dass andere Zeiten auch andere Rechte bringen, ja dass unsere deutschen Männer uns selbst, was wir wünschen, entgegen bringen werden, wenn wir ihnen erst durch die That bewiesen haben, dass unsere Begabungen, wenn auch andere, doch nicht geringer sind als die ihrigen. Das nächste Ziel unserer deutschen Vereinsbestrebungen geht nun dahin, die Frauen zu ermuntern und anzuleiten, sich klar zu werden über das, was sie können, wollen und sollen; ihnen mit Rath und That an die Hand zu gehen, wenn sie dann mit Energie und Ausdauer den sich gesteckten Weg verfolgen.“
Insofern dürfte Henriette Hirschfeld-Tiburtius gut gefallen, welche „sanfte Revolution“ sie zu ihrer Zeit ausgelöst hat. Immer mehr Zahnärztinnen eröffnen Praxen, übernehmen sie oder lassen sich dort anstellen. Auch der Nachwuchs in der Zahnmedizin steht mittlerweile ganz im Zeichen der Frauen. Seit Jahren schon übertrifft die Zahl der Studentinnen die der Studenten.
Gedenktafel für die erste Zahnärztin
Dentista hat nach ihr 2018 einen Wissenschaftspreis benannt, regelmäßig finden Hirschfeld-Tiburtius-Symposien statt, das nächste in diesem Jahr. Doch nicht nur in Berlin, auch in Brande-Hörnerkirchen wird die Erinnerung an Henriette Hirschfeld-Tiburtius aufrechterhalten, und zwar auf Initiative von Helmut Trede und dank der Unterstützung der örtlichen Kirchengemeinde: Seit 2017 hängt eine Gedenktafel am Eingang zum alten Pastorat in Brande-Hörnerkirchen. Dort, wo sie 13 Jahre ihrer Kindheit und Jugend verbracht hat.