Die 97-Jährige wurde wegen Beihilfe zum heimtückischen Mord schuldig gesprochen. Was die Beteiligten sagen.
Dieser Prozess hat Geschichte geschrieben. Es war ein Prozess, bei dem am Ende die Höhe der Strafe fast zur Nebensache wurde. Nach 15 Monaten Verfahrensdauer ist die in einem Altenheim in Quickborn lebende, einstige KZ-Sekretärin Irmgard F. (97) am Dienstag schuldig gesprochen worden.
Schuldig der Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und der Beihilfe zum versuchten Mord in fünf Fällen, verübt im KZ Stutthof bei Danzig. Weil die Angeklagte zur Tatzeit zwischen 1943 und 1945 noch als Heranwachsende galt, erging das Urteil des Landgerichts Itzehoe nach Jugendstrafrecht. Am Ende verhängte die Kammer eine zweijährige Jugendstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Stutthof-Prozess: Irmgard F. sagte bereits in 50er-Jahren aus
Es war ein Prozess, über dem von Beginn an eine Frage stand, die der Vorsitzende Richter Dominik Groß zum Start seiner Urteilsbegründung selbst aufgriff. Die Frage nach dem Warum, nach dem Sinn eines Prozesses, der im September 2021 mehr als 76 Jahre nach den in Rede stehenden Taten begann und in dem ein fast 100 Jahre alter Mensch auf der Anklagebank saß. „Warum dieser Aufwand, warum nutzt die Justiz ihre knappen Ressourcen nicht für die Ahndung der Verbrechen der Gegenwart?“, fragte Groß.
Und beantwortete seine Frage damit, dass der Prozess habe stattfinden müssen. „Nicht um die Versäumnisse der Justiz in der Vergangenheit auszugleichen, nicht um ein Exempel an der Angeklagten zu statuieren. Sondern darum, weil die Strafjustiz gesetzlich verpflichtet ist, Straftaten nachzugehen, die nicht verjähren. Auch wenn es spät ist, und in diesem Fall ist es sehr spät.“
Irmgard F. habe bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren als Zeugin über ihre Tätigkeit im KZ Stutthof ausgesagt. Es sei fragwürdig, warum damals, als die heutige Angeklagte 30 oder 40 Jahre alt war, nicht gegen sie ermittelt wurde, so Groß. Nur weil der Quickbornerin ein derart langes Leben vergönnt ist, habe sie jetzt noch den Gang vor Gericht antreten müssen.
Richter im Stutthof-Prozess: Durchhaltewillen der 97-Jährigen verdient Respekt
Groß bezeichnete das Verfahren als außergewöhnlich, „weil ein Gericht eines Rechtsstaates über Verbrechen eines Unrechtsstaates richten muss.“ Die Kammer habe über zwei Generationen hinweg eine Brücke in das Jahr 1943 schlagen müssen. Die Verfahrensbeteiligten hätten außer der mehr als 100-seitigen Anklageschrift auch das 180-seitige vorläufige Gutachten des historischen Sachverständigen, 1000 Seiten weiteres Aktenmaterial sowie 2000 Seiten mit Aussagen von verstorbenen Personen lesen müssen.
Zudem habe ein Ortstermin in Stutthof stattgefunden. „All das hat Zeit gekostet“, so Groß. Angesichts zweier längerer Erkrankungen der Angeklagten und der Tatsache, dass aufgrund ihres Zustandes zumeist nur einmal wöchentlich zwei Stunden lang verhandelt werden konnte, habe das Verfahren nicht schneller beendet werden können.
Nach ihrer Flucht am ersten Verhandlungstag habe sich Irmgard F. dem Verfahren gestellt und entgegen dem Rat der anwesenden Ärzte teilweise auch länger verhandelt. „Sie hätte den Weg in die Verhandlungsunfähigkeit suchen und wohl auch finden können“, so Groß. Der Durchhaltewillen der 97-Jährigen verdiene Respekt. „Auch wir hätten uns eine sprechende Angeklagte gewünscht, die uns ihre Sicht auf die Apokalypse schildert.“ Das Irmgard F. den Prozess über geschwiegen habe, sei jedoch ihr gutes Recht. Die zwei Sätze des Bedauerns, die die 97-Jährige in ihrem letzten Wort zum Ausdruck gebracht habe, würden jedoch zeigen, „dass dieser Prozess auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen ist“.
Stutthof-Überlebender: "Für mich ist sie indirekt schuld"
30 Nebenkläger, teilweise Stutthof-Überlebende, zum Teil Angehörige von Opfern, hatten sich zu Beginn als Nebenkläger dem Verfahren angeschlossen. Es kamen während des Prozesses einige wenige dazu, andere starben. Am Tag der Urteilsverkündung standen 28 Namen auf der Liste. Acht Nebenkläger sagten vor Gericht persönlich aus, die meisten aufgrund ihres Alters per Videovernehmung. Josef Salomonovic kam am 7. Dezember 2021 als einziger persönlich nach Itzehoe.
Der heute 84-Jährige war mit seiner Familie am 3. September 1944 im Alter von sechs Jahren von Auschwitz nach Stutthof verlegt worden. Am schlimmsten sei dort der Hunger gewesen – und die Kälte. Er schilderte stundenlange Zählappelle ab 5 Uhr morgens, bei denen er zwischen den Beinen seiner Mutter Wärme suchte.
Salomonovic hatte während seiner Aussage ein Bild seines Vaters Erich – er wurde am 17. September 1944 in Stutthof ermordet – in Richtung von Irmgard F. gehalten, die nicht darauf reagierte. „Sie sollte etwas ganz Konkretes sehen. Für mich ist sie indirekt schuld, vielleicht hat sie ja den Stempel auf den Totenschein meines Vaters gemacht“, so der Zeuge im Anschluss gegenüber Journalisten.
„Wir haben uns zwischen den Toten versteckt“
Aus den USA war Asia Shindelman, heute 94 Jahre alt, in den Gerichtssaal geschaltet. Sie wurde 1944 mit ihrer Familie in einem Güterwagen zusammengepfercht mit anderen Gefangenen nach Stutthof deportiert. „Etwa vier Tage waren wir unterwegs, dann blieb der Zug plötzlich stehen, und die Türen wurden geöffnet. Davor standen SS-Männer, bewaffnet mit Peitschen und begleitet von bösen Hunden.“ Am nächsten Morgen habe die Selektion begonnen. „Männer mussten auf die eine, Frauen auf die andere Seite. Ältere und Halbwüchsige bildeten die dritte Gruppe.“ Ihre Oma habe sie an diesem Tag das letzte Mal gesehen. Man habe gebrauchte Kleidung und eine Nummer erhalten. „Es ist 80 Jahre her, aber ich weiß sie noch auswendig – es war 54138.“
Risa Silbert (93), die aus Australien per Videoschalte aussagte, kam mit 15 Jahren im August 1944 aus Estland in das KZ. „Stutthof war die reine Hölle, von Anfang bis Ende.“ Sie sei sofort nach Ankunft von Mutter und Schwester getrennt worden. Erst später sei es ihr gelungen, zu ihnen in die Baracke zu kommen. „Sie hatten für mich bereits ein jüdisches Totengebet gesprochen.“ Sie habe die Häftlingsnummer 71276 erhalten, ihre Schwester die 42027. Täglich seien Frauen und Mädchen aus ihrer Baracke geholt worden und nie wieder aufgetaucht. „Meine Schwester und ich haben uns zwischen den Toten versteckt“ – mit diesem Trick hätten sie versucht, dem Tod zu entgehen.
Auch SS-Wachmann Bruno D. wurde zweimal vorgeladen
Einen, der auf der anderen Seite stand, hatte das Gericht zweimal vorgeladen: Bruno D. (96), der von Sommer 1944 bis Ende April 1945 im KZ Stutthof Wachdienst leistete und 2020 vom Landgericht Hamburg nach 45 Verhandlungstagen wegen Beihilfe zum Mord in über 5000 Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt worden war. Er kam nach seiner militärischen Ausbildung bei der Wehrmacht im Juni oder Juli 1944 in das KZ, in dem mehr als 60.000 Gefangene ums Leben gekommen sind. Von den unmenschlichen Taten will der heute 96-Jährige nichts gesehen haben. Auf Nachfrage des Richters gab er an, „von den Kameraden“ gehört zu haben, dass dort „Menschen vergast worden sein sollen“.
Die Existenz der Gaskammer sei ihm bekannt gewesen – jedoch zu Zwecken der Desinfektion. Einmal will er gesehen haben, wie Menschen in die Gaskammer getrieben wurden und sich jemand auf dem Dach an etwas zu schaffen machte. „Ich habe nicht gesehen, dass die wieder rausgekommen sind.“ Dass es Zivilangestellte wie Irmgard F. gab, die formal zur SS gehörten, davon will er nichts gewusst haben. Er sei nie in der Kommandantur gewesen, habe keinen Kontakt zu den dortigen Personen gehabt.
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Die Tötungsarten, mit denen in Stutthof zumeist jüdische Menschen ermordet worden sind, führte Groß in der Urteilsbegründung auf. Die Gaskammer, die sich zunächst in der einstigen Entseuchungsstation, später dann in einem Eisenbahnwaggon befand. Die Genickschussanlage, bei der den Opfern eine medizinische Untersuchung vorgetäuscht wurde. Die Herbeiführung und Aufrechterhaltung von lebensfeindlichen Bedingungen, etwa durch zu wenig Nahrung, Trinkwasser, verweigerter medizinischer Behandlung und der Zwang zu harter körperlicher Arbeit.
Richter: "Irmgard F. hätte jederzeit kündigen können"
„Welche Rolle die Angeklagte spielte, dazu haben wir etliche und verwertbare Antworten bekommen“, so der Richter. Irmgard F. habe am 1. Juli 1943 kurz nach ihrem 18. Geburtstag ihren Dienst angetreten, sie habe das für Zivilangestellte übliche Einstellungsverfahren durchlaufen. „Sie hätte jederzeit kündigen können, negative Konsequenzen oder eine Bestrafung hätten ihr nicht gedroht.“
Die Quickbornerin habe eine Verschwiegenheitserklärung für alle Geheimhaltungsstufen abgegeben, als einzige Schreibkraft im Geschäftszimmer der Kommandantur den gesamten Schriftverkehr nach außen sowie nach innen in Form der Verschriftlichung der Befehle des Kommandanten Paul Werner Hoppe abgewickelt. Groß: „Einen anderen Schreiber gab es nicht.“
Die Angeklagte habe als Stenotypistin überdurchschnittliche Fähigkeiten aufgewiesen und zur Zufriedenheit des Lagerkommandanten gearbeitet, mit dem sie gemeinsam am 1. April 1945 vor den heranrückenden Truppen der Alliierten nach Westen geflohen sei. Groß: „Wir sind überzeugt, dass sie den Inhalt der Texte auch wahrnahm.“ Zudem habe sie vom Fenster ihres Büros wesentliche Teile des Lagers im Blick gehabt und im Vorzimmer des Kommandanten sicherlich auch Gespräche von SS-Männern mitgehört.
„Sie handelte vorsätzlich, sie handelte auch schuldhaft“
Groß: „Die Angeklagte wusste durch ihre Tätigkeit von dem Vernichtungsapparat und um die schlechten Lebensbedingungen in dem Lager.“ Sie sei durch ihre Schreibarbeiten auch an den Vorbereitungen für Vernichtungstransporte nach Auschwitz sowie den Todesmärschen nach Westen, denen mehr als 11.000 Menschen im Januar 1945 ausgesetzt waren, beteiligt gewesen. „Sie handelte vorsätzlich, sie handelte auch schuldhaft.“
Weil der Kammer keine Angaben zur Reife der Angeklagten im Tatzeitraum vorliegen würden, müsse nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ das Jugendstrafrecht Anwendung finden. Eine Jugendstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wird, lasse erwarten, „dass sie der Angeklagten, die sich in den letzten acht Jahrzehnten straffrei geführt hat, als Warnung dient.“
Nebenkläger freuen sich über Schuldspruch
Christoph Rückel, Vertreter von sechs Nebenklägern, ist mit dem Urteil nur teilweise zufrieden. „Meine Mandanten freuen sich über den Schuldspruch, das Gericht hat klar gesagt, dass sie alles mitbekommen hat.“ Allerdings sei bei den hier angeklagten Taten eine Bewährungsstrafe das falsche Signal und nicht nachvollziehbar. „Das geht schwer in die Köpfe rein.“ Dennoch gehe ein wichtiges Signal von dem Verfahren aus. „Das Gericht hat klar gesagt, dass es Taten gibt, die auch nach so langer Zeit geahndet werden können.“
Staatsanwältin Maxi Wantzen, die eine Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung gefordert hatte, sieht das ähnlich. „Dem Gericht war es wichtig zu zeigen, das Mord niemals verjährt.“ Das sei die wichtigste Botschaft des Verfahrens. Die Kritik insbesondere vonseiten der Nebenklage an der Dauer der staatsanwaltlichen Ermittlungen von fast vier Jahren könne sie nicht nachvollziehen.
„Es waren außergewöhnliche Umstände, weil wir gezwungen waren, in die Vergangenheit hinein zu ermitteln.“ Die Anklagebehörde habe sämtliche übrig gebliebene Dokumente aus dem KZ Stutthof sichten lassen, um herauszufinden, ob es irgendwo eine Unterschrift oder ein Namenskürzel der Angeklagten gebe. „Das alles hat viel Zeit gekostet.“
Stutthof-Prozess: Verteidiger will Revision prüfen
Das Urteil sei erwartbar gewesen, so Verteidiger Wolf Molkentin. Er habe dennoch eine andere Rechtsauffassung vertreten, aufgrund des Zweifelsgrundsatzes einen Freispruch für die Angeklagte gefordert. Molkentin: „Wir haben Rechtsfragen aufgeworfen und waren überrascht, dass sie in der mündlichen Urteilsbegründung keine Rolle gespielt haben.“ Vielleicht ändere sich das im schriftlichen Urteil. „Erst wenn wir das geprüft haben, können wir sagen, ob wir Revision einlegen.“
Mit dem Urteil am 41. Prozesstag ist einer der letzten großen NS-Prozesse beendet. Ob weitere folgen, ist wenig wahrscheinlich. Es soll bundesweit weniger als eine Handvoll Ermittlungsverfahren dieser Art geben. „Ob sie in Prozesse münden, ist zweifelhaft. Ich glaube, es ist vorbei“, sagt Rückel, der als Nebenkläger an den meisten Verfahren beteiligt war.