Kreis Pinneberg. Ist das Sozialverhalten vieler Kinder durch die Corona-Lockdowns nachhaltig gestört? Sozialarbeiter im Kreis berichten von den Folgen.

Gewalt, Mobbing und Ausgrenzung ist allgegenwärtig an den Schulen – auch im Kreis Pinneberg. Das wurde beim Anti-Mobbing-Tag deutlich, der am Dienstag nach drei Jahren Corona-Pause wieder mit Lehrkräften und Schulsozialarbeitern im Kreishaus abgehalten wurde.

Während des Lockdowns in den vergangen zweieinhalb Jahren, als Kinder und Jugendliche achteinhalb Monate zu Hause im „Home-Schooling“ lernen mussten, habe sich die Problematik verschlimmert. Die Ausgrenzung einzelner Kinder in sozialen Netzwerken sei geblieben, ohne dass sie Hilfe von Mitschülern oder Pädagogen erhalten konnten.

Kreis Pinneberg: Wie Kinder und Jugendliche unter Mobbing leiden

„Auch das Sozialverhalten hat sich verändert“, sagt Silvia Stolze vom Team Prävention und Jugendarbeit im Kreis Pinneberg. „Die Kinder müssen erst wieder lernen, achtsam und respektvoll miteinander umzugehen“, ergänzt Bianca Tietz vom Wendepunkt. Das soziale Lernen der Kinder, wie sie sich in der Gemeinschaft verhalten sollten, habe stark gelitten, sagt auch Friederike Kröger vom Verein für Jugendhilfe und Soziales in Pinneberg.

Jedes dritte Kind in Deutschland habe Angst vor Gewalt, Mobbing und Ausgrenzung, hat eine Bertelsmann-Studie vor drei Jahren belegt. 60 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler im Alter von zehn bis 14 Jahren haben demnach Ausgrenzung, Hänseleien oder körperliche Gewalt selbst erfahren. Ein Viertel fühle sich an der Schule nicht mehr sicher. Und etwa ein Drittel sei sogar schon mehrfach zum Opfer geworden.

Wobei es Unterschiede zwischen den Schularten gibt. 28,6 Prozent der Schüler an den Gymnasien haben bereits mindestens zweimal solche Übergriffe erfahren müssen. An den Gemeinschaftsschulen sind es sogar 38,6 Prozent. Real-und Hauptschulen liegen dazwischen. Noch nie von ihren Mitschülern gemobbt wurden laut Studie 43,1 Prozent an den Oberschulen und nur 36 Prozent an den Gemeinschaftsschulen.

„Ein Mobbing-Opfer wird oft für lange Zeit gebrandmarkt“

„Wer gemobbt wird, fühlt sich verletzt, isoliert und psychisch fertig gemacht, braucht womöglich therapeutische Hilfe“, sagt Silvia Stolze. Das sei oft die Folge von Ausgrenzung, Hänselei oder Schlägen. „Ein Mobbing-Opfer wird oft für lange Zeit gebrandmarkt.“

Umso wichtiger sei, dass diese Kinder und Jugendlichen Hilfe bekommen – von ihren Eltern, den Lehrkräften und Schulsozialarbeitern. So fordert auch Bertelsmann-Vorstand Jörg Dräger: „Wir müssen Kinder und Jugendliche ernst nehmen. Die Politik ist hier gefordert, sie besser zu schützen.“ Für manche sei die Schule „ein Ort der Qual“.

So hat der Kreis Pinneberg inzwischen die finanzielle Unterstützung für die Gewaltprävention an Schulen auf eine halbe Million Euro im Jahr aufgestockt, erklärt Silvia Stolze. Während ihrer Schulzeit nähmen Schülerinnen und Schüler im Kreis an vier bis sechs Anti-Mobbing-Workshops teil. Doch in den beiden Lockdown-Jahren 2020 und 2021 hat sich die Zahl der Präventionsveranstaltungen auf rund 230 halbiert. Und statt 9130 Teilnehmerinnen im Jahr 2019 konnten 2021 nur noch 5190 Schüler und Pädagogen erreicht werden, um sich gegen Mobbing zu schützen und Strategien zu entwickeln, wie sie sich dagegen wehren können.

Sie wollen die Schulen vor Mobbing schützen: Bianca Tietz (v.l.), Silvia Stolze, Michael Diestel und Friederike Kröger.
Sie wollen die Schulen vor Mobbing schützen: Bianca Tietz (v.l.), Silvia Stolze, Michael Diestel und Friederike Kröger. © Burkhard Fuchs | Burkhard Fuchs

Welche negativen Auswirkungen hatte der Corona-Lockdown?

Eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung hat dazu festgestellt, welche negativen Auswirkungen der dreieinhalbmonatige erste Lockdown und der fünfmonatige zweite Lockdown auf 11,1 Millionen Kita-Kinder und 14,6 Millionen Schüler hatte. Die Schüler hätten viel weniger gelernt und ihre Lerndefizite seien enorm hoch, heißt es darin. „Wir haben eine Gruppe von Schülerinnen und Schüler in der Größenordnung von 22 bis 25 Prozent, die wegen der Schulschließungen deutlich zurückfallen.“

Darunter habe auch die seelische Gesundheit der Kinder gelitten. „Wir sehen, dass sich bei einem von sechs Jugendlichen während des Lockdowns eine depressive Symptomatik entwickelt hat.“ Die Erscheinungsformen zeigten sich in sehr unterschiedlichem Maße, vom Rückzug der Kinder bis hin zu Verhaltensauffälligkeiten wie etwa Essstörungen.

Begriffe wie „bitch“ werden ohne Skrupel in die Sprache übernommen

Die Schulsozialarbeiter im Kreis haben ein stark verändertes Sozialverhalten festgestellt. Manchen Kindern falle es enorm schwer, sich an die Gemeinschaft in der Schule zu gewöhnen, berichtet Michael Diestel von der Awo. So habe ein Junge seine Freude immer gern zum Ausdruck gebracht, indem er seine Mitschüler umarmt habe und ihnen nahe gekommen sei. Das war für andere nun plötzlich ein Problem.

Die lange Zeit des vereinzelten Unterrichts habe auch die Gefühlslage der Kinder negativ beeinflusst, so Diestel. Demnach verwendeten die Schülerinnen und Schüler immer häufiger Abkürzungen und Ausdrücke, die sie von Influencern in digitalen Medien aufgeschnappt hätten, die sie aber gar nicht verstehen würden. „Sie wissen gar nicht, was es bedeutet und können diese Begriffe auch emotional nicht zuordnen.“

Kreis Pinneberg: Aufmerksamkeitsspanne bei Kindern deutlich geringer

So übertrügen sie Bezeichnungen aus Videospielen wie „bitch“ (deutsch: Schlampe) in ihren normalen Sprachgebrauch, um andere zu beleidigen oder auszugrenzen. Das verletze dann zwar deren Gefühle, aber ihre eigene Gefühlswelt leide darunter, weil es für sie keine Emotionen auslöse. „Die Begriffe sind nicht gefüllt mit Inhalt und Emotionen“, erklärt Diestel.

Hinzu komme, dass die Aufmerksamkeitsspanne bei Kindern durch den digitalen Unterricht erheblich gelitten habe, so der Sozialpädagoge weiter. „Ihnen fällt es schwer, sich über einen längeren Zeitraum auf ein Thema zu konzentrieren.“ Die aus den digitalen Medien gelernte Erwartungshaltung, immer schnelleren Input zu bekommen, beeinflusse ihre Konzentrationsfähigkeit.

„Viele Schüler schalten schon nach 30 Sekunden ab, wenn ich noch über das gleiche Thema spreche.“ Umso mehr freuten sich Schüler und Lehrkräfte, dass die Maskenzeit vorbei sei, sagt Bianca Tietz. Nun könnten Mimik und Körpersprache wieder gedeutet werden.