Elmshorn. Die Beratungsstelle des Vereins Wendepunkt hat immer mehr Fälle zu bewältigen. Sie werden verspätet gemeldet. Die Gründe.
Die Fälle nehmen zu: Seit 1993 kümmert sich der Verein Wendepunkt in Elmshorn nun schon um kindliche Opfer sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt, Misshandlung und Kindesvernachlässigung. Die Zahl der Anfragen an die kreisweit tätige Beratungsstelle ist jetzt erneut stark angestiegen. Mehr als 1200 Menschen haben sich im vergangenen Jahr hilfesuchend an den Verein gewandt – 2020 waren es 1000 Personen. Und auch für dieses Jahr rechnen die Berater mit steigenden Zahlen – nicht zuletzt wegen der Spätfolgen durch die Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges.
Den Anstieg der Zahlen führt Wendepunkt-Chef Dirk Jacobsen darauf zurück, dass durch Lockdown, Beschränkungen und Schließungen sowie dem Wegfall sozialer Kontakte Fälle verzögert beim Verein eingelaufen sind und hier noch die Folgen des ersten Corona-Jahres zu sehen sind. Denn Kinder und Jugendliche, die unter Gewalt leiden, konnten sich während dieser Zeit keinem anvertrauen.
Kindesmissbrauch: Lehrer fehlten als Hinweisgeber
Niemand wurde auf ihre Situation aufmerksam, denn Lehrer, Erzieher oder andere pädagogische Fachkräfte konnten in der Phase der Kita- und Schulschließungen nicht genau hinsehen, sie fielen als Hinweisgeber weg. Familien, die durch die Schließungen im Frühjahr besonders belastet waren, sind erst nach und nach beim Jugendamt gelandet, und es hat gedauert, bis sie die nötige Unterstützung bekommen haben, erklärt Jacobsen.
Nach den Wiederöffnungen erreichten die 53 Mitglieder des Vereins viele Anfragen in allen Fachbereichen. Besonders Schulen haben Hilfe angefordert, weil es in Klassenverbänden verstärkt zu Konflikten und Mobbing gekommen sei. Auch in der Familien- und Erziehungshilfe ist der Wendepunkt tätig und erhielt zeitweilig mehr Anfragen vom Jugendamt, als bearbeitet werden konnten. Zuvor wurden 85 Familien betreut, 2021 waren es 99 Familien.
Kinderpornografie steigt enorm an
Ein weiterer Baustein ist der Fachbereich Ambulante Rückfallprophylaxe und Täterarbeit. 417 Fälle wurden in diesem Bereich 2021 bearbeitet – gegenüber 370 in 2020. Hier spiegelt sich der Trend, der auch in der Kriminalstatistik zu sehen ist: Die Verbreitung kinderpornografischer Schriften in Schleswig-Holstein ist stark angestiegen.
Ein weiterer Arbeitsbereich ist das Interdisziplinäre Traumazentrum, das Menschen nach einem traumatischen Erlebnis schnelle und unbürokratische Hilfe bietet. Die traumatischen Ereignisse reichen dabei von Gewalttaten über Unfälle, Verluste von Bezugspersonen und anderen Ressourcen, Krieg und Flucht bis zur Vernachlässigung in der frühen Kindheit. Denn schwere Belastungserlebnisse und traumatische Erfahrungen können zu anhaltenden Störungen, Verhaltensauffälligkeiten oder auch gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen.
Insgesamt kam es zu 743 Fallanfragen. 2020 waren es 554. Denn erst nach vielen Jahren des Aufbaus ist erstmals der Großteil der Arbeit in diesem Bereich vom Kreis Pinneberg finanziell abgesichert. „So konnten wir unser Wirken unter anderem mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Regio Kliniken intensivieren und ausweiten“, so Jacobsen. Die Trauma-Ambulanz sei ein sehr modernes Projekt, das einmalig in der Bundesrepublik ist.
Mehr Fortbildungen digital
War 2020 der Fortbildungsbereich noch überwiegend von der Corona-Pandemie beeinträchtigt, ergab sich in 2021 ein ganz anderes Bild. Der Digitalisierungsschub im Wendepunkt Fortbildungszentrum (WFZ) sorgte für Neu-Formate mit bundesweiter Präsenz und guten Buchungszahlen. Zudem fielen weniger Veranstaltungen wegen Corona aus, sondern konnten in den digitalen Raum verlegt werden. Während Fort- und Weiterbildungsangebote 2020 komplett wegfielen, fanden im vergangenen Jahr 207 Veranstaltungen statt.
Wegen der deutlich gestiegenen Fallzahlen kam es in vielen Bereichen zu längeren Wartezeiten. „Wir haben ein ereignisreiches Jahr hinter uns. Die Arbeit war nicht einfach, aber wir konnten allen Klienten helfen, haben keine Fallanfragen abgelehnt“, resümiert Jacobsen. „Glücklicherweise konnten wir darauf aufbauen, dass wir schon im ersten Corona-Jahr neue Kommunikations- und Kontaktwege gesucht und unser digitales Angebot ausgebaut haben. So waren wir die ganze Zeit ansprechbar für alle Hilfesuchenden.“
Neben all der Umstrukturierung in Arbeitsabläufen und einer Mehr-Arbeit, ohne die die vielen Anfragen nicht bewerkstelligt werden konnten, gab es 2021 auch Höhepunkte, auf die das Team zurückblicken kann. Wie etwa die kreative Aktion mit Jugendlichen aus einer Elmshorner DaZ-Klasse (Deutsch als Zweitsprache) während der Interkulturellen Woche. Unter dem Motto „Komm, ich zeig Dir, was mich stärkt“ hat der Verein die Jugendlichen der Boje-C.-Steffen Gemeinschaftsschule zu Protagonisten und Filmemachern werden lassen.
14 Schülerinnen und Schüler sprechen in dem achtminütigen YouTube-Video über Kraftquellen, die ihnen in der Corona-Zeit geholfen haben. Bei den Dreharbeiten wurde viel gelacht, gemeinsam beraten und gegenseitig unterstützt, erklärt Wendepunkt-Sprecherin Michaela Berbner.
Und als Reaktion auf die Hochwasserkatastrophe im Juni in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen bot Wendepunkt eine kostenlose Online-Fortbildung an, um pädagogischen Fachkräfte vor Ort bei ihrer Arbeit mit betroffenen Kindern zu unterstützen. 177 Fachkräfte aus dem gesamten Bundesgebiet und sogar aus Ostbelgien nahmen das Angebot wahr.