Itzehoe/Quickborn. Hat eine Schreibkraft im KZ Stutthof Beihilfe zum tausendfachen Mord geleistet? Diese Frage soll im Prozess geklärt werden.
Mit einem Paukenschlag begann vor einem Jahr in Itzehoe ein Prozess gegen eine frühere Sekretärin im KZ Stutthof. Gleich am ersten Tag des Verfahrens am 30. September fehlte die Angeklagte. Die damals 96 Jahre alte Irmgard F. war morgens aus ihrem Seniorenheim in Quickborn geflüchtet. Das Gericht erließ einen Haftbefehl. Nur Stunden später nahm die Polizei die Angeklagte auf einer Straße im Norden Hamburgs fest. Fünf Tage musste die 96-Jährige in Untersuchungshaft verbringen. Erst kurz vor Weihnachten wurde der Haftbefehl gegen sie aufgehoben. Als wäre das Verfahren nicht schon spannend genug.
KZ-Prozess gegen Stutthof-Sekretärin: Bilanz nach einem Jahr
Seit Prozessbeginn wurde die Angeklagte nun schon 30-mal in einem Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben. Die rüstig wirkende Seniorin hört während der gut zweistündigen Sitzungen meist aufmerksam zu – und schweigt. Bis heute.
Die Staatsanwaltschaft wirft Irmgard F., inzwischen 97 Jahre alt, Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen vor. Durch ihre Tätigkeit als Schreibkraft soll sie den Verantwortlichen des deutschen Konzentrationslagers Stutthof in der Nähe von Danzig bei der systematischen Tötung von Gefangenen Hilfe geleistet haben. Wie auch von der Verteidigung nicht in Frage gestellt wird, arbeitete Irmgard F. von Juni 1943 bis April 1945 in der Kommandantur des Lagers im heutigen Polen. Damals war sie 17 bis 18 Jahre alt.
Der Angeklagten gegenüber sitzen bis zu 15 Anwälte, die inzwischen noch 29 Überlebende des Nazi-Terrors als Nebenkläger vertreten. Drei Nebenkläger sind in den vergangenen Monaten bereits gestorben. Das Gericht hat acht Überlebende als Zeugen gehört. Auch ein ehemaliger Wachmann des Lagers sowie Ermittlungsbeamte im Fall Irmgard F. und in einem ähnlichen Fall in Süddeutschland sagten aus. Die Überlebenden und auch der ehemalige Wachmann bestätigten, dass in Stutthof massenweise Menschen starben. Nach den Worten zweier Nebenkläger war das KZ die „Hölle“.
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Hauptbelastungszeuge ist bislang ein Historiker und sein Gutachten
Doch keiner der Überlebenden konnte 77 Jahre nach den Geschehnissen Angaben zu der Angeklagten machen. Der letzte Zeuge, Chaim Golani aus Israel, erklärte zwar zunächst, er habe die Angeklagte mehrmals täglich in SS-Uniform gesehen, nahm seine Aussage aber gleich wieder zurück. Golanis Anwalt erklärte, sein Mandant müsse die Szene verwechselt haben.
Ganz offensichtlich setzt das Gericht auf einen einzigen Schlüsselzeugen: den Historiker Stefan Hördler. Der Göttinger KZ-Experte hat sein Gutachten an 14 Verhandlungstagen vorgetragen. Bei den beiden Verteidigern stießen seine Ausführungen immer wieder auf Kritik. Der Sachverständige habe nur die seiner Ansicht nach belastenden Dinge hervorgehoben, bemängelt Rechtsanwalt Wolf Molkentin. So habe Hördler stets betont, wenn ein Bezug zum Geschäftszimmer der Kommandantur vorlag, aber nicht oder erst auf Nachfrage der Verteidigung erklärt, wenn dies gerade nicht der Fall war.
Ein Beweisstück wie etwa ein Schreiben aus der Kommandantur mit dem damaligen Kürzel der Angeklagten habe der Historiker nicht vorlegen können. „Nach wie vor fehlt es an klaren Belegen dafür, dass die Angeklagte mit bestimmten Dingen und Aufgaben zu tun hatte“, sagt Verteidiger Molkentin.
KZ-Prozess: Nebenkläger wollen vor allem gehört werden
Nebenklagevertreter Rajmund Niwinski zieht eine ganz andere Bilanz. Es sei seinen Mandanten sehr wichtig, dass über das Lager gesprochen werde. Hördler habe eine detaillierte Zusammenfassung zum KZ Stutthof präsentiert, die es so noch nicht gegeben habe. „Die Welt – wenn sie zuhört – hat schon sehr viel über das Lager und das dort Geschehene erfahren“, sagt Niwinski.
Sein Kollege Hans-Jürgen Förster betont jedoch, dass der Strafprozess nicht mit der Aufarbeitung der Zeitgeschichte vermischt werden dürfe. So hätten einige Nebenklagevertreter an die Angeklagte appelliert, sich als Zeitzeugin zu äußern. Wenn sie das täte, müsste das Gericht dies als Aussage werten, erklärt Förster. Es sei aber ihr gutes Recht zu schweigen. Fundamentale Beschuldigtenrechte müssten stets gewahrt bleiben.
„Es geht um Recht, nicht um Rache. Es geht um Gerechtigkeit für Täter und Opfer“, sagt Förster. Wirkliche Genugtuung für die Opfer könne nur aus einem gerechten Urteil kommen. „Und Gerechtigkeit kennt kein Verfallsdatum“, betont Förster mit Blick auf das Alter der Angeklagten und der Überlebenden.
KZ-Prozess: Ziel für viele Nebenkläger durch Aussage erreicht
„Ich habe noch keinen Nebenkläger erlebt, der gesagt hat: Ich möchte, dass der Angeklagte – oder jetzt in diesem Fall die Angeklagte – hart bestraft wird. Im Gegenteil, die sagen alle, daran sind wir überhaupt nicht interessiert, etwa dass so jemand noch ins Gefängnis kommt. Wir sind daran interessiert, dass unsere Geschichte gehört wird“, sagt Rechtsanwalt Günther Feld, der bereits in mehreren NS-Prozessen Überlebende vertreten hat.
Doch warum nehmen die hochbetagten Nebenkläger die körperlichen und seelischen Strapazen einer Aussage vor Gericht auf sich? Als Überlebende habe sie die Verpflichtung, Zeugnis abzulegen, sagte die inzwischen verstorbene Halina Strnad im Juni.
Förster zitiert die Aussage einer Überlebenden, die in einem anderen NS-Prozess gesagt habe: „Ihre Aussagemöglichkeit sei für sie gewesen, als habe sie Blumen auf das nicht vorhandene Grab ihrer Angehörigen legen können.“ Dieses Ziel sei für viele Nebenkläger nach einem Jahr erreicht, bilanziert Niwinski.
Der Prozess wird am heutigen Dienstag fortgesetzt und soll Ende November zu Ende gehen.