Kreis Pinneberg. Dem „runden Leder“ wird beim Fußball allerlei angetan. Kolumnist Oliver Lück widmet sich heute der Gefühlslage des Balls.

Heute mal was über Fußball. Mögen Sie Fußball? Falls nein, keine Sorge, eigentlich soll es auch gar nicht um die Fußballerei gehen, sondern nur um den Ball. Schließlich dreht sich immer und alles um ihn – und er um sich selbst. Er wird getreten, geköpft, gestreichelt und geküsst, ins Publikum geschossen, gehasst, geliebt, verloren und vergessen.

Und nicht selten wird er auch derart überhöht und aufgeblasen, dass es weh tut – bis er schließlich platzt. Der Ball wird allerdings nie gefragt, was er von der ganzen Sache hält.

Beim Fußball ist die Grenze zur Hysterie fließend

„Auch der Ball hat sicherlich Gefühle.“ Das hat mir mal der niederländische Musiker und große Fußballfan Herman van Veen in einem Interview gesagt. Und weiter: „Ich frage mich, wer da mit wem spielt? Die Spieler mit dem Ball oder der Ball mit den Spielern?“

Ein wunderbarer Gedanke, nicht wahr? Der Ball macht, was er will, und lässt uns dabei glauben, dass wir ihn irgendwie unter Kontrolle bringen könnten. Und vor allem ist es ihm dabei vollkommen egal, was Spieler und Zuschauer erleben. Ob sich ihre Träume in Luft auflösen, weil der entscheidende Elfmeter gegen die Latte donnert. Oder ob ein Schuss von Gerd Müller ins Tor der Holländer trudelt und Deutschland Weltmeister wird.

Ich weiß, auch der Ball – und vor allem der Fußball – lebt von Übertreibungen. Die Grenze zur Hysterie ist fließend. Bei der WM 2006 in Deutschland schickte die Fifa Frauen barfuß ins Stadion, weil ihre Stöckelschuhe angeblich die Sicherheit gefährdeten. Ein Länderspiel in Mittelamerika endete einst im Krieg, was leider nicht im übertragenen Sinne zu verstehen ist, es gab 6000 Tote. Und auch die absurde Überhöhung des Fußballs als Religion und die Verehrung der gottgleichen Spieler als übermenschliche Superhelden sind natürlich vor allem eines: extrem peinlich.

Lange Haare und noch längere Pässe: Netzer war der Star der Intellektuellen

Nicht selten wird der Fußball zum selbstorganisierten Zeichensystem erklärt, der SC Freiburg wird mit dem späten Max Horkheimer und der Frankfurter Schule in Verbindung gebracht. In den 70er-Jahren entdeckten Intellektuelle in den langen Haaren und den noch längeren Pässen von Günter Netzer den Geist der Utopie.

Und vor jeder Weltmeisterschaft müssen ja immer auch Intellektuelle ihre dialektische Beidfüßigkeit unter Beweis stellen. Aber Fußball ist viel einfacher. „Das Spiel wird am Boden gewonnen“, pflegte einer meiner Trainer früher immer zu sagen. Und was denkt er denn nun eigentlich, der Ball? Herman van Veen: „Aua!“

Oliver Lück (49) ist Journalist und Buchautor. Jede Woche erzählt er an dieser Stelle von seinen Beobachtungen und Begegnungen. Gerade ist sein neues Buch „Was denkt der Ball?“ erschienen (Hirzel Verlag, 148 Seiten, 18 Euro) www.lueckundlocke.de