Pinneberg. Bagger mit extra langem Ausleger im Einsatz. Aus Schutt werden persönliche Gegenstände und sensible Daten geborgen. Die Details.
Die Schaufel des Longfrontbaggers hat auf 15 Meter Höhe einen Büroschrank gegriffen und auf dem Boden abgestellt. Darin hängt eine pinkfarbene Kapuzenjacke, die eine Mitarbeiterin bei der plötzlichen Evakuierung des Amtsgerichts Pinneberg im Mai 2021 zurücklassen musste. Die persönlichen Gegenstände kommen in eine Box. Darunter auch Kaffeetassen und eine Vase, Schreibtischlampen, Computer. In einem anderen Container lagern alle Schriftstücke, zum Teil mit vertraulichem Inhalt. Fotos dürfen von den sensiblen Akten und Datenträgern nicht gemacht werden.
Amtsgericht Pinneberg: Abriss des maroden Gebäudes geht voran
Etwa 30.000 Akten konnten von den Entschärfungsrobotern „Telemax“ und „Teodor“, die zwischen August 2021 und Ende Januar 2022 im Einsatz waren, aus dem Gebäude geholt werden. Andere mussten zurückgelassen werden und liegen nun im Abrissschutt. Sie werden von den Bauarbeitern eingesammelt. „Die Akten werden dem Justizministerium ausgehändigt, ebenso elektronische Datenträger“, sagt der zuständige Architekt Olaf Carstensen vom Werkbüro für Architektur (WfA) aus Kiel. Dort muss das Material gesichtet und entschieden werden, was aufbewahrt werden kann und soll.
Am 4. Oktober wurde mit dem Abriss des Westflügels begonnen. Dieser ist auf Stützen gebaut, die von den Alkali-Kiesel-Reaktionen – auch Betonkrebs genannt – so geschädigt ist, dass der Gebäudeteil akut einsturzgefährdet ist. Darum muss auch bei den Abrissarbeiten vorsichtig vorgegangen werden. Weil die Standfestigkeit des Gebäudes gefährdet ist, muss der Abriss mit viel Abstand durch einen Longfrontbagger vorgenommen werden. „Dieser bricht das Bauwerk vorsichtig und Stockwerk für Stockwerk ab“, sagt Svenja Bochen vom Gebäudemanagement Schleswig-Holstein (GMSH).
Amtsgericht Pinneberg: Ostflügel soll bis Ende des Jahres verschwunden sein
Nach ersten Einschätzungen soll der Abbruch etwa nach acht Wochen beendet sein. Offen ist noch, ob der ebenfalls durch die Alkali-Kieselsäure-Reaktion geschädigte Ostflügel auch abgerissen werden muss oder hier eine Sanierung möglich und wirtschaftlich ist. „Wir warten noch auf die Ergebnisse der Untersuchungen.“
Um die Staubbelästigung für die Anwohner so gering wie möglich zu halten, hat der Longfrontbagger Wasserdüsen am Ausläufer. Zusätzlich steht ein Bauarbeiter auf dem Dach des Westflügels und bewässert das Abrissgebäude. „Der 90 Tonnen schwere Spezialbagger, dessen Ausleger eine Spannweite von 35 Metern hat, musste nachts als Schwerlasttransport mit Sondergenehmigung nach Pinneberg gefahren werden“, sagt Architekt Carstensens. Nach dem Abbruch wird die Wand zum Westflügel mit einer neuen Außenschale versehen und das Gebäude so witterungstauglich gemacht, bis feststeht, was mit dem verbleibenden Gebäudeteil geschieht.
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Amtsgericht Pinneberg: Lange Vorbereitungen für Abriss
Die Vorbereitungen für den Abriss waren aufwendig. So musste unter anderem in einem Artenschutzgutachten untersucht werden, ob in dem Haus Fledermäuse vorkommen. In einem Beweissicherungsgutachten wurden die an das Amtsgericht angrenzenden Gebäude auf Schäden untersucht. Das wird wiederholt, sobald der Ostflügel abgerissen ist. So wird dokumentiert, ob an den Häusern Schäden durch den Abriss entstanden sind. Außerdem mussten die Gebäudeteile technisch (Heizungsrohre, Brandmeldeanlage) voneinander getrennt werden.
Schon im Mai 2021 wurde die Alkali-Kiesel-Reaktionen im Fundament des Gerichtsgebäudes festgestellt. Eine Alkali-Kieselsäure-Reaktion ist die chemische Reaktion zwischen Kieselsäure aus Betonzuschlägen wie Kies und Sand und Alkalihydroxiden aus dem erhärteten Beton beziehungsweise aus von außen eindringenden basischen Lösungen. Es entsteht ein stark wasseranziehendes Alkali-Kieselsäure-Gel, das durch Wasseraufnahme quillt und durch seine Volumenvergrößerung zur Zersetzung des Betons führen kann, erklären die Experten.
Amtsgericht Pinneberg: Betonkrebs tritt an Gebäuden immer wieder auf
Beim Bau 1975 wurden also ungeeigneter Zuschlagstoffe (alkali-empfindliche Sande und Kiese) verwendet, denen dann Feuchtigkeit zugesetzt hat. Zu erkennen ist der Betonkrebs durch kleine Risse im Beton. Streusalz verstärkt die Zersetzung. „Ein Befall mit Betonkrebs bedeutet keine automatische Einsturzgefahr. Im Straßen- und Ingenieurbau treten immer wieder Fälle auf mit erheblichen Instandsetzungskosten auf“, heißt es aus dem GMSH.
Der Dienstleister bewirtschaftet die vom Land genutzten Liegenschaften und beschafft Material und Dienstleistungen für die Landesbehörden. Die GMSH bringt jährlich rund 800 Millionen Euro an den Markt. Neben der Zentrale in Kiel gibt es landesweit zwölf Büros in denen 1700 Menschen beschäftigt sind.
Die etwa 125 Mitarbeiter des Amtsgerichts sind in Quickborn und Schenefeld untergebracht. Die Mitarbeiter für Zivil-, Straf- und Familiensachen sind in den ehemaligen Firmensitz von Interschalt am Osterbrooksweg in Schenefeld umgezogen. Dort finden auch Gerichtsverfahren statt. Der Bereich Register, Grundbuch, Nachlass und Insolvenz konnte in der Interimsunterbringung in Quickborn unterkommen.