Pinneberg. Sein Trainer ist tot, sein Vater noch in der Ukraine: Bogdan Topalov floh. Wie er in Pinneberg seine sportliche Heimat fand.

Ende März erreichte Malte und Jaqueline Brodersen auf ihrem Google-Business-Profil eine Nachricht. „Hallo, ich bin ein Gewichtheber aus der Ukraine. Ich würde gern bei euch trainieren. Was kostet das? Viele Grüße Bohdan!“ Die beiden Geschäftsführer des Fitnessstudios CrossFit MyBuddy in Pinneberg antworteten, dass er sich die Anlage am Ziegeleiweg gern anschauen könne. „Wenn man so eine Nachricht bekommt, mit dem Übersetzer erstellt, dann kommen einem ja schon Gedanken, was für ein Mensch dann wirklich vor einem steht“, sagt die Geschäftsführerin.

Ukraine-Flüchtling stemmt jetzt in Pinneberg seine Gewichte

Doch statt des erwarteten „Schranks“ stand dann ein damals 15 Jahre alter schüchterner Junge vor der Tür. „Daran habe ich erst gemerkt, wie schlimm dieser Krieg wirklich ist. Dann kommt einem das Geschehen so richtig nah. Und das berührt einen emotional extrem. Was kann denn dieser arme Junge dafür?“, so „Jackie“ Brodersen.

Bei ihr und ihrem Mann sprang sofort ein Gesamtpaket aus Hilfsbereitschaft, Fürsorge und Beschützerinstinkt an. Sie nahmen ihn unter ihre Fittiche. Bogdan Topalov, in ursprünglicher Schreibweise Bohdan, guckte sich in der Halle um. Mit dabei: der Übersetzer auf dem Handy. Ein wenig Englisch und die Hände und Füße für den Rest der Kommunikation.

Seit 2015 führen Jacqueline und Malte Brodersen das Studio in Pinneberg.
Seit 2015 führen Jacqueline und Malte Brodersen das Studio in Pinneberg. © Frederik Büll | Frederik Büll

Seine Miene hellte sich erkennbar auf, als er die Plattform für die Gewichtheber entdeckte. Beim Crossfit sollen möglichst alle Muskelgruppen beansprucht werden, diverse Übungen mit der Langhantel, etwa Kniebeugen, zählen dazu. Für ihn, der mit seiner Mutter Tatjana und dem jüngeren Bruder Dennis (8) aus Wolnowacha – gut 65 Kilometer von Mariupol im Südosten der Ukraine entfernt – vor dem russischen Angriffskrieg geflohen war, ein winziger Lichtblick – im sportlichen Sinne.

Ukraine-Krieg: Vater des Gewichthebers blieb in der Heimat

„Mein Papa Pavel ist in der Ukraine geblieben“, sagt Bogdan auf Deutsch. Und dabei schaut er dermaßen traurig, dass sich weitere Nachfragen aus Gründen des Respekts verbieten. Von seinem ehemaligen Trainer im Gewichtheben erzählt Bogdan Topalov allerdings: „Er lebt nicht mehr. Mit einem Auto sind sie in Dnipro über eine Mine gefahren. Drei Insassen waren sofort tot. Mein Trainer lag im Krankenhaus im Koma und ist dann auch gestorben.“ Betretenes Schweigen.

Bogdan Topalov, inzwischen Zehntklässler der Elmshorner Anne-Frank-Gemeinschaftsschule, möchte nach seiner Flucht nur Gewichte heben. „In der achten Klasse, also mit zwölf Jahren, habe ich mit diesem Sport angefangen, weil mein Kumpel Vassili das auch gemacht hat. Drei Tage länger als ich“, grinst Topalov. Ein Vorbild hat er auch. „Der deutsche Gewichtheber Max Lang hat eine gute Technik“, sagt der Nachwuchssportler, der von sich selbst sagt, ehrgeizig zu sein.

In seiner Schule besucht er die sogenannte DaZ-Klasse („Deutsch als Zweitsprache“) und hat die Fächer Deutsch, WiPo, Mathe, Englisch und Sport. Deutsch mag er davon am liebsten. „Außerdem höre ich noch Audiobücher“, sagt er. Der Sport bestimmt aber den Großteil seiner Freizeit.

Bogdan Topalov ist bereits niedersächsischer Landesmeister

Im näheren Umfeld gibt es keinen Sportverein, der olympisches Gewichtheben im Angebot hat. Zwei Hamburger Clubs stehen unter Dopingverdacht. Brodersen hörte sich um, nun startet sein Schützling für den MTV Soltau in Niedersachsen. Der dortige Coach Valentin Horstmann schreibt die Trainingspläne für Bogdan. Brodersen kümmert sich um das organisatorische Drumherum, beschaffte über Spenden einen Gewichtheber-Anzug und die passenden Schuhe.

Viele der etwa 200 Mitglieder des Crossfit-Studios helfen mit und beteiligen sich beispielsweise an Fahrtkosten. Bogdan könne sich so auf das Sportliche konzentrieren. Die Niedersachsenmeisterschaften gewann er bereits. Der niedersächsische Verband sei froh „so ein starkes Pferd“ im Landeskader zu haben, sagt Malte Brodersen.

Ukrainer tritt bei norddeutscher Meisterschaft im Gewichtheben an

Nun stehen am Sonnabend und Sonntag, 8. und 9. Oktober, in Wahrsow bei Lübeck die norddeutschen Titelkämpfe an. Als einziger Starter in seiner Alters- und Gewichtsklasse (Jugend bis 67 Kilo) ist ihm der Sieg nicht zu nehmen. Ziele hat er trotzdem. „Ich möchte im Reißen 85 Kilo schaffen und im Stoßen 110 Kilo“, so der Elmshorner. Damit will er im Stoßen fünf Kilo mehr Gewicht stemmen als bei der Niedersachsenmeisterschaft.

Fünfmal in der Woche trainiert er für jeweils bis zu eineinhalb Stunden. Beim Reißen wird das Sportgerät ohne Unterbrechung aus der Hocke nach oben gestemmt. Beim Stoßen muss die Hantel im ersten Zug oberhalb der Brust umgesetzt werden, das Gewicht wird nach oben gewuchtet und nach dem Ausfallschritt müssen die Beine wieder parallel zueinander stehen. Am 19. November geht es für das Talent nach Sangerhausen in Sachsen-Anhalt zur Deutschen Meisterschaft, mit seinem Begleiter-Team und einer Hotelübernachtung.

Pinneberg: Ukrainer findet im Fitnessstudio eine sportliche Heimat

Was mag er so am Gewichtheben? Topalov: „Ich finde es einfach interessant. Und ich möchte stärker werden.“ Wichtig seien acht Stunden Schlaf am Tag und „gesundes Essen“. Das bedeutet für ihn, wenig bis kein Fast Food, „dafür viel Fleisch, viel Eiweiß“. Die ukrainische Küche sei ohnehin sehr fleischlastig, wirft die Pinneberger Trainerin mit einem Lächeln ein.

Seit dem 7. März ist Topalov in Elmshorn, kam dort zunächst bei seiner Tante unter, die bereits seit 20 Jahren dort wohnt. Mittlerweile ist die Familie in einer Unterkunft für Geflüchtete der Johanniter im alten Postgebäude untergebracht.

Mit dem Bus kommt er zum Training nach Pinneberg, um auch selbstständig nach seinen Trainingsplänen üben zu können. Selbstverständlich kostenfrei. „Wir möchten einfach unseren kleinen Beitrag leisten, dass er hier ein soziales Umfeld hat“, sagt Malte Brodersen. Beim Sport gebe es zudem keine Sprachbarrieren. Und trotzdem muss hier und da geholfen werden: „Die ganze Sportbürokratie ist ja für Muttersprachler schon nicht ganz einfach. Das erledige ich alles“, sagt der Studio-Inhaber.