Pinneberg. Kreis und Kommunen ächzen unter der Welle von Kriegsflüchtlingen. Wie es den Betroffenen geht – Ortstermin in Pinneberg.
Seit der russischen Invasion in die Ukraine sind rund eine Million Menschen nach Deutschland geflohen. Der Kreis Pinneberg zählt deutlich mehr Geflüchtete aus der Ukraine als andere Kreise des Landes: Laut Bundesangaben leben im Kreis 13,9 Ukrainer je 10.000 Einwohner, die Kreisverwaltung spricht von etwa 3200 Menschen (das Abendblatt berichtete). Diese Einwanderungswelle wirft erneut ein Schlaglicht auf die Schwachstellen des Aufnahmesystems – vor allem auf den Wohnungsmangel.
Ukraine-Krieg: Nicht genug Wohnungen für Geflüchtete im Kreis
An der Grenze zwischen Pinneberg und Prisdorf versteckt sich hinter einem Wäldchen eine Notunterkunft für dutzende ukrainische Familien – überwiegend Frauen und Kinder. Die Männer, Väter, Brüder und Ehemänner sind meist in der Ukraine geblieben, dienen in der Reserve. Zwei Familien leben hier in einem 15 Quadratmeter großen Zimmer. Die wenigen Sachen, die die Geflüchteten mitnehmen konnten, stapeln sich in den Ecken. Kein Platz für Privatsphäre. Es herrscht Enge.
„Schauen Sie sich an, wie wir leben“, sagt Raisa (73). Dann bricht sie in Tränen aus. Sie ist mit ihrer Tochter und ihrem Enkelkind im März aus Charkiw geflohen. „Ich bin geistig und körperlich krank und muss in einem winzigen Lagerbett schlaffen“, schluchzt sie. „Es ist ein Albtraum“, sagt Tochter Anna.
Ukraine-Krieg: Platzmangel macht Geflüchteten zu schaffen
In einem anderen Zimmer leben die Mütter Natalia und Lubow mit ihren Töchtern Maryna und Yelizaveta. Auf dem einzigen Tisch und unter den Betten liegen Lebensmittel, Taschen, Kleidung. Seit vier Monaten leben die zwei Familien unter diesen Bedingungen. Zuvor waren sie in einer Notunterkunft. Maryna muss ihr Studium an der Uni online fortsetzen, doch ihr fehlt Platz. „Manchmal ist das W-LAN so schlecht, dass ich mich nach draußen setzen muss“, sagt sie. Obwohl sie eine Wohnung gefunden hatten, verweigerte das Jobcenter die Erlaubnis, weil die Wohnung zu klein gewesen sei.
Volodymyr und Larisa aus der Region Donezk müssen nach mehreren Monaten in einer Notunterkunft nun ihr Nachbarzimmer mit einer anderen Familie teilen. „Obwohl die Stadt uns versprochen hatte, dass wir ein Zimmer für uns haben, kamen nach sechs Wochen noch andere Leute dazu“, erzählt Volodymyr. Das Ehepaar sei dennoch dankbar. Kein Drama. „Uns geht es gut, wir bekommen Unterstützung, aber solche Bedingungen sind trotzdem schwierig. Zwei Leute in einem Zimmer sind gut, vier sind zu viel“, sagen sie.
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Nahezu alle Geflüchteten suchen nach Hilfe, um Wohnungen zu finden, Arzttermine auszumachen oder um einen Job zu bekommen. Doch schnell stoßen sie an die Grenzen der Bürokratie, sagen sie. Ob im Rathaus, im Jobcenter oder beim Arzt – alles dauert quälend lange. Und „oft kommen gar keine Antworten“, so Larisa Attspodina (60) aus Kiew. Sie lebt seit Juni in Pinneberg, ist bei einer deutschen Gastfamilie untergebracht.
Nicht genügend Deutschkurse für ukrainische Geflüchtete
Die Sprachbarriere und die zahlreichen „Kommunikationsprobleme“ machen die Lage nicht leichter. „Ich will arbeiten, aber ich kenne die deutsche Sprache nicht genug“, sagt Larisa. Sie lernt gerade Deutsch, indem sie in Rellingen viermal die Woche an einem Kursus teilnimmt. So leicht kommen aber nicht alle Geflüchteten in Deutschkurse, wie der Kreis jüngst mitteilte.
Die meisten der Glücklichen haben sich schon vor mehreren Monaten eingeschrieben. Andere warten noch immer auf eine Bestätigung. Viktoriia Molyk aus der Region Tschernihiw etwa hat sich im Juni für ein Deutschkursus beworben, kann aber wohl erst jetzt, im Oktober, anfangen. Ein großes Problem sei außerdem das Ausfüllen von Dokumenten für die Behörden.
Eine Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, berichtet, sie würde seit Wochen eine ältere und behinderte ukrainische Dame pflegen, weil sie keine Unterstützung bekommen würde. „Sie ist krank, ist mehrfach verletzt, hat Parkinson und muss in einem winzigen Zimmer leben“, sagt sie. Jemand müsse sich ständig um die Frau kümmern. Die erkrankte Frau hätte aber keine Erlaubnis bekommen, in ein Altenheim zu gehen. „Es ist eine Katastrophe. Wir brauchen Hilfe, und zwar schnell“, sagt sie.
Ukraine-Krieg: Teilmobilmachung bereitet Geflüchteten Sorgen
In Pinneberg übernehmen die kirchlichen Gemeinden und Organisationen eine wichtige Rolle bei der Migrationsbetreuung, um die Sorgen der Kriegsflüchtlinge zu mildern oder ihren Grundbedürfnissen nachzukommen. Jeden Dienstag etwa veranstaltet die katholische Gemeinde St. Michael ein Ukraine-Treffen, bei dem sich die Leute in Ruhe unterhalten und in bescheidenem Maß erholen können. Dort können die Ukrainer Kleidung bekommen und dürfen sie dort auch waschen. Beim Ausfüllen von Dokumenten stehen die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen den Geflüchteten zur Seite. Eine von ihnen ist Traudchen Perrefort.
Auch in der evangelischen Diakomigra findet jeden Freitag ein Geflüchteten-Kaffee statt. Auf dem Programm steht auch dort etwas Zerstreuung mit Kaffee und Kuchen. Aber auch kleine Deutschkurse mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen werden angeboten.
Für Unruhe unter den geflüchteten Ukrainern sorgt derzeit zudem die Teilmobilmachung in Russland und die daraufhin einsetzende Flucht der Reservisten. Sollten russische Geflüchtete in den Unterkünften noch dazukommen, würde das wohl nicht nur wegen des Mangels an Platz zu Spannungen führen. Bisher, so die Kreisverwaltung auf Abendblatt-Anfrage, sei jedoch noch kein verstärktes Aufkommen russischer Flüchtlinge im Kreis Pinneberg zu verzeichnen.