Itzehoe/Quickborn. Zahl der Opfer war während der Dienstzeit der angeklagten Stutthof-Sekretärin enorm hoch. Irmgard F. hört zu und schweigt.

Es schneite an jenem Tag, und es stürmte. Es ist der 24. Januar 1945, als das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig überhastet geräumt werden soll. Im Stundentakt, so sehen es die Anweisungen vor, sollen sich die Marschkolonnen in Bewegung setzen. Auch in Waggons sind Gefangene unterwegs. Schließlich werden weitere Waggons angehängt, außerdem Viehwagen mit Hunderten von Häftlingen. „Viele waren bereits tot, andere lagen im Sterben. Die Toten wurden einfach ins Freie geworfen.“ Als die Gefangenen am Ziel ankamen, „waren wir mehr tot als lebendig.“

KZ-Prozess: Historiker berichtet von grausamen Zuständen in Stutthof

Es ist dieser erschütternde Bericht eines Überlebenden, der ein Schlaglicht auf die grauenhaften Zustände im Winter 1945 wirft. Die Rote Armee kam immer näher, das Konzentrationslager Stutthof sollte geräumt werden. Es waren viele tausend Menschen, die in jener Zeit der Räumungstransporte und der sogenannten Totenmärsche im Januar und im Mai 1945 umkamen. Listen wurden geführt, Tabellen aufgestellt, Dokumente erfasst. Doch die Zahlen, die dort genannt werden, sind nach Überzeugung des Historikers Stefan Hördler „allenfalls Mindestgrößen“, wie der Sachverständige im KZ-Prozess vor dem Landgericht Itzehoe darlegt. „Es ist davon auszugehen, dass nicht alle Toten in den Lagerstatistiken verzeichnet wurden.“

Offiziell ist eine Zahl: Für die Zeit vom 1. Juni 1943 bis zum 23. April 1945 gab es im gesamten KZ-Komplex Stutthof mindestens 19.278 Tote. Es ist genau jene Zeit, in der Irmgard F. als Zivilangestellte im Konzentrationslager tätig gewesen sein und dort in der Kommandantur gearbeitet haben soll. Die Staatsanwaltschaft wirft der heute 97-Jährigen in dem Prozess vor, durch ihre Schreibarbeit Beihilfe zum systematischen Mord an mehr als 11.000 Gefangenen geleistet zu haben.

KZ-Prozess: Angeklagte hört zu – und schweigt weiter

Kerzengerade sitzt die Angeklagte zu Beginn dieses Verhandlungstages da. Sie nimmt ihre Brille ab und reibt sich die Augen. Dann hört sie den Ausführungen des Historikers zu. Der Sachverständige ist mitten in seinem Vortrag über die Todeszahlen im Konzentrationslager, als die Aufmerksamkeit von Irmgard F. offenbar deutlich nachlässt. „Schlafen Sie nicht ein!“, mahnt der Vorsitzende Richter. Nun wendet die Frau mit den schlohweißen Haaren wieder ihren Blick auf den Bildschirm, auf dem unter anderem zeitgenössische Dokumente gezeigt werden. Es sind auch Dokumente des Grauens.

Für die zweite Jahreshälfte 1944 sei ein sukzessiver Anstieg der Todeszahlen zu verzeichnen gewesen, wie Historiker Hördler ausführt. Im August waren es nach offiziellen Berichten noch 386 Menschen, die starben, danach stiegen die Zahlen stetig bis zum November mit 1459 Toten. Das sei „der Beginn nicht nur des Massensterbens sondern auch der systematischen Massentötungen“, so Hördler.

Stutthof-Prozess: Historiker spricht von „enormen Todeszahlen“

Im Dezember 1944 habe es mehr als 3600 Menschen gegeben, die verstorben sind. Mit dem Beginn der Fleckfieberepidemie in dem Konzentrationslager seien die Massentötungen dann wieder gestoppt worden, weil sie aus Sicht der Nazis wegen der Epidemie „nicht mehr notwendig“, gewesen seien. Anfang 1945 habe sich die Situation weiter zugespitzt. Allein im neuen Jahr waren bis zum 11. Januar insgesamt 2906 Menschen verstorben, berichtet Hördler, der die Sterberate einordnet und von „enormen Todeszahlen“ spricht.

Unterdessen teilt Rechtsanwalt Rajmund Niwinski mit, dass seine Mandantin, die KZ-Überlebende Halina Strnad, Anfang dieses Monats verstorben ist. Vor drei Monaten hatte die 95-Jährige noch in dem Prozess gegen Irmgard F. über eine Videoverbindung als Zeugin ausgesagt. Unter anderem berichtete sie von Misshandlungen und den vielen Toten. Niwinski betonte, wie wichtig es für seine Mandantin gewesen sei, „so lange, wie es geht, über das, was im Lager geschehen ist, zu reden. Denn die Täter schweigen. Und die Welt vergisst allzu schnell.“ Der Prozess wird fortgesetzt.