Quickborn. Alexis Rodgold hat die Geschichte seines Großvaters aufgearbeitet, der als Gefangener im Himmelmoor Torf stechen musste.
Das jahrelange Leben in Kriegsgefangenschaft der etwa 50 französisch sprechenden Soldaten jüdischen Glaubens während des Krieges in Quickborn ist um eine Facette reicher. Der heute in Israel lebende Alexis Rodgold hat die Geschichte seines Großvaters Léon Dreyfuss, der von Dezember 1942 bis zur Befreiung am 4. Mai 1945 mit anderen Franzosen und einem Belgier in dem Rotsteinhaus gefangen war und im Moor Torf stechen musste, aufgearbeitet. Danach war der Aufenthalt der Kriegsgefangenen in Quickborn möglicherweise weniger beschwerlich als angenommen und von Mithäftling Henri Goldstein aus Brüssel in seinen Memoiren dargestellt wurde.
Quickborn: Wie die Moorsoldaten im Himmelmoor überlebten
Die jüdischen Gefangenen erhielten nach Rodgolds Recherchen einen Lohn für ihre schwere Arbeit, konnten sich dafür bei einem fliegenden Händler aus Quickborn etwas kaufen, und sie bekamen auch Pakete vom Roten Kreuz mit Zigaretten und Schokolade. „Objektiv ging es ihnen schlecht. Subjektiv ging es ihnen gut“, sagt Rodgold. „Natürlich war das Leben im Himmelmoor schwer, aber verglichen mit dem KZ war es ein Fünf-Sterne-Hotel“, fasst der Informatiker seine langjährigen Recherchen über die Gefangenschaft seines Großvaters zusammen, die er in einer Power-Point-Präsentation bereits einem internationalen Publikum präsentierte.
„Daher muss man das Leiden der Kriegsgefangenen relativieren“, schlussfolgert Rodgold. „Es gab dort weder Mord noch Folter noch Tod durch Arbeit noch Todesmarsch noch weitere KZ-typische Ereignisse. Es gab einen Lohn, es gab Zugang zu einem ‚fliegenden Händler‘, bei dem man diesen Lohn einsetzen konnte, es gab medizinische Versorgung, Pakete des Roten Kreuzes und Pakete von der Familie.“
Neue Erkenntnisse auch für Historiker vor Ort
Zeitzeugenberichte hätten dies bereits in ähnlicher Weise in dem 2005 von ersten Quickborner NS-Forschern über dieses Kapitel veröffentlichte Buch „Kriegsgefangen-Arbeitskommando 1416“, wie die Wehrmacht damals das jüdische Arbeitslager im Himmelmoor genannt hat, bestätigt. Darin wird der Quickborner Zeitzeuge Hein Schwering zitiert, der sich erinnerte: „Die Kriegsgefangenen bekamen auch regelmäßig Pakete vom französischen Staat mit Kaffee, Schokolade, Mandeln und Zigaretten. Alles Dinge, die in Deutschland nicht zu bekommen waren.“
Gleichwohl zeigt sich Jens-Olaf Nuckel von den Recherchen Rodgolds überrascht. „Mich hat etwas verwundert, dass Léon Dreyfuss in seinen Briefen die Arbeit im Himmelmoor als nicht so anstrengend beschrieben hat“, sagt Nuckel. Auch sei für ihn „völlig neu“ gewesen, dass die Gefangenen Tauschhandel betreiben konnten, Lebensmittelpakete erhalten haben und in Kontakt mit der Quickborner Bevölkerung standen.
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„Das sind neue Erkenntnisse, die wir von Goldstein nicht so beschrieben bekamen, der oft von Erschöpfung durch die schwere Arbeit sprach“, sagt Nuckel. Die neuen Erkenntnisse sollten nun weiter untersucht werden, kündigt der Vorsitzende des Fördervereins des Goldstein-Hauses, wie das Gefangenlager heute heißt, an. „Mit dieser Aufgabe werden wir jetzt einen Historiker beauftragen“, sagt Nuckel.
Dreyfuss geriet 1940 mit seinen Cousins in Gefangenschaft
Léon Dreyfuss kam nicht allein in deutsche Gefangenschaft, wie sein Enkel Rodgold berichtet. Er wurde zusammen mit seinen Cousins Pierre und Yvan Dreyfuss im Juni 1940 gefangen genommen, als die französische Armee nach dem Einmarsch der Wehrmacht kapitulierte. Alle stammten aus kleinen Dörfern im Elsass. Mit dem Zug wurden sie zunächst über Rastatt, Frankfurt, Berlin, Danzig und Thorn in ein Lager im ostpreußischen Hohenstein bei Königsberg (Stalag 1B) gebracht, wo sie mit 1500 anderen französischen Gefangenen interniert waren.
Anfang des Jahres 1941 wurden sie dann auf verschiedene Kriegsgefangenlager bei Hamburg verteilt: Neugraben, Waltershof, Glückstadt, Itzehoe und eben Quickborn, das damals 4000 Einwohner zählte.
Léon Dreyfuss kam dort mit etwa 50 anderen Häftlingen am 9. Dezember 1942 an. Sie mussten „schwere physische Arbeit im Moor“ verrichten, berichtet Rodgold. Der Torfwerkbetreiber gewährte ihnen dafür einen Tageslohn von 3,50 Reichsmark, wie es die Genfer Konvention von 1929 für Kriegsgefangene vorschrieb. Mit dem Geld kauften sie sich Sachen für den täglichen Bedarf, die der fliegende Händler Rudolf Martens aus der Pinneberger Straße in Quickborn vorbeibrachte.
Gefangene arbeiteten nicht nur im Himmelmoor
Dreyfuss, der die Gefangennummer F51460 trug, schrieb in einem Brief an seine Familie: „Anders, als man es sich vorstellt, war die Arbeit beim Torfstechen nicht besonders anstrengend. Man war in der freien Natur, und das hatte durchaus seinen Reiz. Einer unserer Kameraden arbeitete bei einem Bauern in der Nähe und hörte jeden Tag BBC.“ Sein Cousin Pierre sei sogar „jeden Abend bei einem deutschen Unteroffizier eingeladen“ gewesen, wo er die Berichte des deutschen Oberkommandos der Wehrmacht mitverfolgte. Auch Tageszeitungen wie das Hamburger Fremdenblatt hätten sie lesen können, schreibt Dreyfuss.
Quickborns NS-Forscher Matthias Fischer-Willwater, der seit rund zehn Jahren engen Kontakt zu Rodgold hält, erklärt sich diese Aussage mit der Jahreszeit. Dreyfuss sei mitten im kalten Winter ins Himmelmoor gekommen. „Bei Frost konnte da beim besten Willen kein Torf gestochen werden. Das dürfte sich im Frühjahr schnell geändert haben“, sagt Willwater.
Jüdische Gefangene von Aufsehern schikaniert und drangsaliert
Denn vor der Schikane ihrer Aufseher waren die jüdischen Gefangenen nicht geschützt. So ist der deutsche Kommandeur Werner Rohde, ein Quickborner Unteroffizier, nach dem Krieg vom französischen Militärgericht zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, weil drei jüdische Gefangene aus Quickborn glaubhaft bezeugten, dass er sie zu „krankmachender Arbeit sommers wie winters bei völlig unzureichender Ernährung“ gezwungen habe. Rohde habe sich „ein Vergnügen daraus gemacht, die Gefangenen zu schikanieren und zu schlagen“, heißt es in dem Urteil.
Somit stützten diese drei Leidensgenossen die Beschreibung Goldsteins, dass sie sehr wohl auch körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen waren, so Alexis Rodgold. Gegen den Nachfolger dieses Menschenschinders, Böhner, sei dagegen nicht ermittelt worden.
Rauchverbot für die Gefangenen nach Moorbrand im Jahr 1943
Auch konnten die Himmelmoor-Soldaten ihre jüdischen Feste feiern, wie das Passahfest zu Ostern im April 1943, schrieb Dreyfuss nach Hause. Dann gab es Gebäck, und fröhliche Lieder wurden gesungen. Einige Gefangene versuchten zu flüchten, was aber allen misslang. Die Strafe bestand dann in einiger Zeit in Einzelhaft. „Aber niemand wurde erschossen, gefoltert oder deportiert“, sagt Alexis Rodgold. Auch hierin sei die Genfer Konvention eingehalten worden.
Die Hoffnung, bald wieder frei zu sein, habe die Gefangenen nicht verzweifeln lassen. Zudem hatten sie einen erfahrenen Seelsorger an ihrer Seite. Dem Rabbiner Ernest Gugenheim gelang es, die Quickborner Mitgefangenen moralisch bei Laune zu halten. Sicherheitshalber hatte der sich aber als Student ausgegeben. Und die Mithäftlinge nannten ihn vorsichtshalber in ihren Briefen „den Bruder von Madame Noe“.
Im Mai 1943 kam es zu einem Moorbrand im Himmelmoor. Daraufhin ist den Gefangenen streng untersagt worden, im Moor zu rauchen. Für Rodgold ist das ein weiterer Beleg dafür, dass die Gefangenen im Himmelmoor über Zigaretten verfügten. „Wieder wird kein Gefangener gefoltert, erschossen oder kommt ins KZ.“
Einige Gefangene versuchten zu flüchten – ohne Erfolg
Allerdings war die drohende Todesgefahr den Gefangenen allgegenwärtig, wie Rodgold betont. „Das dunkle Schicksal der Juden stand ihnen vor Augen. Im Februar 1941 sind sie einer Gruppe Hamburger Juden begegnet, die zu Erdarbeiten in Wandsbek und Umgebung herangezogen waren. Durch den Rabbiner Joseph Carlebach kamen sie an Matzot. Zu Pessach des folgenden Jahres gab es dann keine Juden und keinen Rabbiner Carlebach in Hamburg mehr. Manche ihrer Familien in Frankreich schrieben ihnen nicht mehr, und ihre eigenen Briefe kamen mit dem Stempel ‚Adressat unbekannt‘ zurück.“
Der Völkermord an den Juden muss ihnen also bewusst gewesen sein, ist Rodgold überzeugt. „Sie konnten Fotoreportagen in den deutschen Zeitungen sehen, die das Elend in den polnischen Ghettos zeigten. Die Gefahr, dieses schlimme Schicksal zu teilen, hing wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen. Einige versuchten, aus dem Lager zu flüchten. Doch wenn sie erwischt wurden, kamen sie zurück ins Arbeitskommando.“
Zum Glück aber hätten alle jüdischen Gefangenen in Quickborn die fünf Jahre Kriegsgefangenschaft in Deutschland überlebt, die Hälfte davon in Quickborn, so Rodgold. „Ohne Typhus, ohne Folter, ohne Todesmarsch und Erschießungen.“
Léon Dreyfuss war von Beruf Buchhalter, er wurde 97 Jahre alt
Sein Großvater Léon Dreyfuss, in Straßburg geboren, war 97 Jahre alt, als er 2011 in Lausanne am Genfer See starb. Seine Familie war groß. Er hatte vier Kinder, 13 Enkelkinder und mehr als 20 Ur-Enkelkinder, schreibt Rodgold. Nach seinem Studium war er in Paris in einer Firma eingestellt worden, die in den 1970-Jahren nach Genf umgezogen ist. Von Beruf war Dreyfuss Buchhalter.
Hat sein Opa über seine Zeit im Himmelmoor gesprochen? „Er hat wenig darüber geredet“, sagt sein Enkel. „Jeder, der dort war, hat kaum geredet. 1945 kehrten die KZ-Überlebenden zurück in ihre Familien. Das Leiden im KZ war so immens, dass es nicht möglich war, über das Leben im Straflager zu sprechen.“ Auch eine gewisse Scham spielte dabei wohl eine Rolle, glaubt Rodgold: „Im Arbeitskommando war es sehr kalt, aber niemand ist von Kälte und Krankheit gestorben. Es gab wenig zu essen, aber niemand ist verhungert. Sie waren von ihren Liebsten getrennt, aber sie konnten einander schreiben und Fotos und Pakete schicken. Daher war es unangemessen, sich zu beklagen.“
Große Solidarität unter den Gefangenen
Dabei waren die Quickborner Erlebnisse mit Sicherheit „eine tiefgreifende Erfahrung“ für Léon Dreyfuss mit Anfang 30. „Der junge Rabbiner Ernest Gugenheim hat seine ‚Gemeinde‘ moralisch gestützt. Dazu herrschte unter den Kameraden eine große Solidarität. Ein großer Teil kam aus dem Elsass und war entweder miteinander verwandt oder befreundet“, so Rodgold. „Ich kann mir vorstellen, dass oft der jüdisch-elsässische Dialekt gesprochen wurde. Die jüdischen Feiertage wurden, soweit möglich, begangen. Daher kam er gestärkt aus dieser schweren Zeit zurück. Aber zum Pessach-Abend, wo man den Auszug aus Ägypten feiert, wurde in seiner Familie stets daran erinnert, dass er selbst versklavt wurde.“
Alexis Rodgold freut sich sehr darüber, dass diese Geschichte in Quickborn jetzt historisch aufgearbeitet wird. „Ich stimme mit dem Ziel des Vereins überein und die Veranstaltungen sind sehr interessant“, sagt er. „Würde ich in Quickborn wohnen, wäre ich bei jedem Event dabei!“, sagt er. Möglicherweise wird er im Oktober oder November nach Quickborn kommen.
Quickborn: Historiker findet Namen der Gedenkstätte unpassend
Er würde allerdings einen anderen Namen für das Gedenken im Himmelmoor wählen, schlägt der Nachfahre eines Inhaftierten vor. „Der Terminus NS passt dort nicht, weil die NS-Gesetze in dem Moment unwirksam wurden, als sie das Tor zum Arbeitskommando passierten.“
Die in Nazi-Deutschland für Juden geltenden Gesetze „durften nicht angewendet werden. So trugen die jüdischen französischen Kriegsgefangenen keinen gelben Stern“, sagt Rodgold und erinnert an den Bericht von Henri Goldstein, wie eines Nachts im April 1945 ein SS-Trupp das Lager im Himmelmoor aufsuchte. Die jüdischen Gefangenen mussten sich nackt ausziehen und ums Lager laufen. Als der Oberscharführer SS dann einen erschöpften Häftling erschießen wollte, habe der Wehrmachts-Unteroffizier ihn angeschrien, „ob er verrückt geworden“ sei und ihn und seine Leute aus dem Lager gejagt.