Quickborn/Itzehoe. Der KZ-Prozess gegen die Quickbornerin Irmgard F. (97) geht in die entscheidende Phase. Ein Urteil könnte im November fallen

Es ist der wichtigste Themenblock, mit dem der historische Sachverständige Stefan Hördler Freitag startete. Es geht um Verbrechen, Tötungen und den systematischen Massenmord im Konzentrationslager Stutthof in den Jahren 1944 und 1945 – also in der Zeit, in der Irmgard F. (97) aus Quickborn dort als Stenotypistin des Lagerkommandanten tätig war. Sie muss sich seit September 2021 vor der Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen verantworten.

KZ-Prozess: Historiker berichtet von systematischem Massenmord

Wie diese Taten zustande kamen, dazu nahm der Historiker am 23. Prozesstag – nach zuletzt drei wegen Krankheit ausgefallenen Terminen – Stellung. Hördler machte deutlich, dass die Nationalsozialisten im Jahr 1944 eine deutliche Ausweitung des KZ-Systems geplant hatten. 612.000 Personen sollten in den Lagern neu aufgenommen werden, inklusive bereits geplanter Zugänge wären es mehr als eine Million Personen gewesen. „Diese Zahlen wurden nicht erreicht, aber es war trotzdem zahlenmäßig das Jahr der größten Deportationen“, so Hördler weiter.

Für Stutthof sei hinzugekommen, dass angesichts des negativen Kriegsverlaufs Konzentrationslager im Baltikum geräumt und die Insassen auf andere Lager verteilt werden mussten. „Es kamen Zehntausende Männer, Frauen und Kinder in kürzester Zeit nach Stutthof, sodass sich die Zahl der Häftlinge dort vervielfacht hat.“ Stutthof selbst sei für eine so hohe Zahl von Insassen nicht ausgelegt gewesen, sodass es „zu einer katastrophalen Überfüllung kam“.

Eine Folge sei gewesen, dass die Mordmaschinerie beschleunigt und ab 1944 durch Tötungen mit Giftgas erweitert wurde. „Stutthof war so etwas wie ein Experimentierfeld für andere Lager“, so der Historiker. Noch arbeitsfähige Häftlinge seien in Außenlager oder in andere Lager im Reichsgebiet gebracht worden. Arbeitsunfähige Personen blieben im Lager und wurden teilweise in Randzonen verlegt, wo sie starben. Hördler sprach von einem „regelrechten Massensterben“ von bis zu 200 Häftlingen am Tag, die unversorgt sich selbst überlassen waren.

KZ-Prozess: Noch zehn Verhandlungstage angesetzt

In der Zeit sei auch die „Radikalisierung des Krankenmords“ erfolgt. Ab Spätsommer 1944 hätten die Lager eigenverantwortlich entscheiden können, Kranke und Arbeitsunfähige umzubringen. Allein zwischen Juni und Oktober 1944 seien 27 Transporte mit Häftlingen in Stutthof eingetroffen – insgesamt 48.609 Personen, größtenteils Juden. „Stutthof diente als das zentrale Auffanglager“, so Hördler.

Er zitierte aus einem Fernschreiben vom 30. August 1944, unterzeichnet vom Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe, wonach Stutthof nicht mehr in der Lage sei, weitere Häftlinge aufzunehmen. Dennoch seien weitere Transporte mit Zehntausenden Personen angekommen. Dabei seien Frauen mit Kindern unter 14 Jahren gar nicht mehr erfasst worden. Laut Hördler galten sie in der Ideologie der Nazis als „unbrauchbares Menschenmaterial“ und wurden somit der Vernichtung zugeführt. Hördler: „Wir können nicht ausschließlich, dass auch diese Gruppe an den Massentötungen in Stutthof beteiligt war.“ Mangels der Erfassung gäbe es dazu keine Zahlen.

Aufgrund der Überbelegung sei es in dem Lager zu Epidemien gekommen, in deren Folge die Todesrate noch mehr anstieg. Schließlich habe das 1943 errichtete Krematorium nicht mehr ausgereicht, sodass die Leichen der an Fleckfieber verstorbenen Personen offen auf einem Platz verbrannt wurden.

Hördler wird seine Ausführungen am 24. Verhandlungstag fortsetzen, der aufgrund einer Sommerpause erst am 19. August stattfinden kann. Im Anschluss sind noch neun weitere Prozesstage anberaumt, der vorerst letzte am 4. Oktober. Es wird jedoch damit gerechnet, dass sich das letzte große Verfahren zu den Nazi-Verbrechen bis November hinzieht.