Quickborn/Itzehoe. Hermann Walter saß im KZ Stutthof als Häftling ein und musste SS-Angehörige frisieren. Dabei erfuhr er vieles – auch über Vergasungen.

Irmgard F. geht es sichtlich nicht gut. Nicht einmal zwei Stunden hält die 96-jährige Angeklagte aus Quickborn am Dienstag vor dem Landgericht Itzehoe durch, ehe der Arzt vom gerichtsmedizinischen Dienst den 15. Verhandlungstag im KZ-Prozess mit den Worten „Frau F. kann nicht mehr“ beendet.

Zuvor hatte erneut der historische Sachverständige Stefan Hördler von der Universität Göttingen das Wort. Sein Hauptthema waren die Massenmorde im Konzentrationslager Stutthof, in dem die Angeklagte zwischen 1. Juni 1943 und 1. April 1945 als Schreibkraft in der Lagerkommandantur tätig war. Die Tätigkeit brachte ihr mehr als sieben Jahrzehnte später eine Anklage wegen der Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen ein.

„Im Lager Stutthof sind Personen vergast worden."

Zentrale Frage des Prozesses, in dem Irmgard F. die Aussage verweigert, ist es, ob die damals 18-Jährige Kenntnis von den Massentötungen hatte und diese durch ihre Tätigkeit aktiv unterstützte. Der Sachverständige verlas am Dienstag zahlreiche frühere Zeugenaussagen sowohl von SS-Männern als auch Zivilangestellten und Häftlingen aus Stutthof, die sich mit eben diesen Massenmorden befassten.

Darunter auch die Aussage von SS-Stabscharführer Heinz Furchtsam, der in Stutthof als Rechnungsführer tätig war und nach einer Namensänderung 1954 die Angeklagte heiratete. Im selben Jahr gab er in einer Vernehmung zu Protokoll: „Im Lager Stutthof sind Personen vergast worden. Darüber sprach man im Kommandanturstab.“

In den Kleinbahnwaggons wurden Menschen vergast

Ein anderer SS-Mann aus dem Stab sagte im Jahr 1974 aus, dass er in etwa sechs Fällen beobachten konnte, wie Männer, Frauen und Kinder in Kleinbahnwaggons steigen mussten, vor denen eine Lokomotive angekoppelt war. Die Gruppen seien ohne Widerstand dort eingestiegen, offenbar seien sie davon ausgegangen, in ein anderes Lager zu kommen. Ein Mann in Eisenbahneruniform habe vor der Lok gestanden, er habe diesen als SS-Mann wiedererkannt. Dieser sei nach Verschließen der Türen auf das Dach der Waggons geklettert und habe etwas in die Wagen hineingeschüttet. Erst später habe er erfahren, dass es sich um Vergasungen handelte, zitierte Hördler den Zeugen.

Ein Großteil der zitierten Aussagen stammt von Herta Ziebuhr, die wie die Angeklagte als Zivilangestellte in dem KZ tätig war und als Funkerin in der Fernschreibstelle saß. Ziebuhr, die auch eine Liebesbeziehung mit dem verheirateten Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe unterhielt und von diesem ein Kind bekam, berichtete in ihrer Aussage von Exekutionsbefehlen, die per Fernschreiben in Stutthof eintrafen. Sie erinnerte – wie mehrere andere Zeugen – auch die Massenerschießungen von polnischen Partisanen im Jahr 1944.

Und die Funkerin hat auch ausgesagt, dass die Judenvergasung ebenfalls Thema in den Fernschreiben war. Ein Befehl dazu sei jedoch nicht übermittelt worden, es sei vielmehr darum gegangen, welche Gebäude in Stutthof sich dazu am besten eignen würden.

Irmgard F. hielt auch nach dem Krieg Kontakt zu SS-Größen

Andere zitierte Zeugenaussagen betrafen einen mobilen Galgen, mit dessen Hilfe Hinrichtungen vor den Augen der Häftlinge erfolgten. In einem Fall soll der Strick zweimal gerissen sein, ehe der etwa 14 Jahre alte Häftling später erschossen wurde.

Hördler zitierte die Aussage von Hermann Walter, der als Häftling einsaß und dem als Friseur Privilegien zufielen. Er wohnte wie die Zivilangestellten im Kommandanturgebäude, frisierte dort SS-Angehörige. Dabei erfuhr er vieles – auch über die Vergasungen. „Die Massentötungen waren im Kommandanturstab bekannt“, folgerte daraus Hördler. Er berichtete auch, dass viele SS-Leute aus Stutthof in den letzten Kriegstagen ein neues KZ in Wöbbelin bei Ludwigslust aufbauten – darunter auch Irmgard F.. Sie und ihr Ehemann hielten zudem auch nach Kriegsende engen Kontakt zu den SS-Größen aus Stutthof.

Die Angeklagte bekommt nun eine Erholungspause. Angesichts der Hamburger Ferien setzt der Prozess zwei Wochen aus. Am 21. und 22. März soll erneut Hördler gehört werden, an 29. März sagt ein Überlebender aus. Im April soll auch Bruno D. (94) angehört werden – der Wachmann aus Stutthof, den das Landgericht Hamburg im Juli 2020 zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt hatte.