Helgoland. Seit 60 Jahren nehmen Forscher vor Helgoland Wasserproben. Der Temperaturanstieg der Nordsee hat weitreichende Folgen.
Jeden Tag fährt der Forschungskutter „Aade“ vor Helgoland raus – seit 60 Jahren. Das weiße Holzmotorboot ist ausschließlich auf den Gewässern rund um die Nordseeinsel unterwegs. Es läuft werktäglich aus, damit die Besatzung Proben für die Helgoland-Reede-Langzeituntersuchung nehmen und die Wassertemperatur messen kann. Die Crew sammelt außerdem biologisches Untersuchungsmaterial für Experimente. Dafür ist das Motorboot mit einem Kransystem, Planktonnetzen und einem Wasserschöpfer ausgerüstet. Die Langzeitdatenserie geht auf das Jahr 1962 zurück und ist damit die weltweit detaillierteste Planktonreihe.
„Wir haben herausgefunden, dass sich das Wasser vor Helgoland seit 1962 um 1,9 Grad erwärmt hat“, sagt Karen Wiltshire. Die gebürtige Irin leitet die Biologische Anstalt Helgoland (BAH) seit 2001. 1,9 Grad – das ist fast doppelt so viel der Durchschnittswert aller Meere weltweit. Der Temperaturanstieg wirkt sich unmittelbar auf das Phytoplankton aus, die Nahrungsgrundlage vieler Meeresbewohner. So ernähren sich Fischlarven und tierisches Plankton von den mikroskopisch kleinen Pflanzen. „Die Blüte im Frühjahr beginnt später nach milden Wintern “, sagt die Wissenschaftlerin.
Helgoland: Klimawandel hat Folgen für die Fischerei
Schon als Kind wollte Wiltshire Försterin oder Polarforscherin werden. Sie studierte später Umweltwissenschaften, schrieb ihre Doktorarbeit an der Uni in Hamburg und sammelte dabei in der Deutschen Bucht auch um Helgoland Plankton und Nährstoffproben. Seit 2001 forscht und arbeitet sie am Alfred-Wegener-Institut Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, zunächst auf Helgoland, dann auf Sylt. Seit 2006 ist sie Vize-Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts.
Nicht immer erhielt die Forschung auf Helgoland die Anerkennung von heute. „Das Langzeitmonitoring an der Helgoland Reede wurde immer wieder auch infrage gestellt“, sagt Wiltshire. In den 70er- bis 90er-Jahren lagen die Prioritäten eher auf kurzfristigen Projekten, das Klima stand nicht im Fokus. „Die tägliche Arbeit bindet Ressourcen. Doch wie wollen wir Veränderung erkennen, wenn wir nicht mal Daten erheben?“ Wiltshire gelang es, die Studie gegen alle Bedenken zu verteidigen.
Wer frisst in der Nordsee wann was unter welchen Umständen?
„Heute ist der Datensatz ein großer Schatz“, so die Forscherin. Aus ihm lässt sich ableiten, wer im Wasser wann und was unter welchen Umständen frisst. Unter Verwendung der Helgoland-Reede-Langzeitreihen und anderer langfristigen Beobachtungsdaten entwickeln und testen die Forscher Hypothesen über die Auswirkungen ökologischer Stressoren auf Individuen und Gemeinschaften. Darauf basieren zum Beispiel Produktivitätsberechnungen der Fischerei. Auch die Quallenforscher greifen dankbar auf die Daten aus Helgoland zurück. Und für die Klimaforschung ist der Datensatz unendlich kostbar.
„Nie war sich die Forschung so einig wie beim Thema Klimaerwärmung“, sagt Wiltshire. Doch leider seien die Warnungen der Forscher über viele Jahre ungehört geblieben. „Die Schelfmeere, die seichten Gewässer, wärmen sich schneller auf. Die Flüsse laufen warm ab. Die Zukunft der Küstengewässer der Nordsee ist warm und sauer. Wir müssen den CO2-Ausstoß drosseln, um diese Entwicklungen zu verlangsamen. Wir können Ressourcen nicht ungebremst ausnutzen, sonst wird es auch uns Menschen bald schlecht gehen“, sagt die Mutter zweier Söhne. Was ihr Hoffnung macht: Der Mensch sei fähig dazu. „Und wir haben das Wissen und die Technologien, um umzusteuern.“
Nordsee: Kabeljau zieht weg, Barben und Quallen kommen
Der Temperaturanstieg sorgt unter anderem dafür, dass sich der Kabeljau hier nicht mehr wohlfühlt und weiter in den Norden in kältere Gefilde zieht. „Dort wird er jetzt vor Grönland eher gesichtet“, sagt Karen Wiltshire. Streifenbarben, die es nur im Sommer gab, sind nun das ganze Jahr über in der Nordsee anzutreffen. Außerdem gibt es mehr Quallen.
Diese Entwicklungen werfen Fragen auf. Wie adaptieren sich die Tiere an die Temperaturen? Wie stehen die etablierten Organismen mit den neuen in Konkurrenz?
All das hat also auch weitreichende Folgen für die Fischerei. Wie sich die Temperaturen auf den Helgoländer Hummer oder die Europäische Auster auswirken, ist für die Bemühungen wichtig, sie wieder rund um Helgoland anzusiedeln.
Auch die lokalen Krabbenfischer sind unmittelbar betroffen, denn Krabben bevorzugen kalte Tiefen, Fänge bleiben aus. Am Ende spürt das auch der Konsument. Karen Wiltshire: „Damit steigen die Preise für unsere geliebten Krabbenbrötchen.“
Forschung auf Helgoland seit 1835
Das Forschen auf Helgoland hat Tradition: Schon im Jahr 1835 bewies der Naturforscher Christian Gottfried Ehrenberg, dass das Meeresleuchten um Helgoland durch den mikroskopisch kleinen Einzeller Noctiluca scintillans hervorgerufen wird.
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Auch der Wissenschaftler Johannes Müller erkannte das Potenzial der Insel: Er begründete 1845 auf ihr die Planktonforschung und gilt als Erfinder des Planktonnetzes, mit dem noch heute Plankton und kleine Tierchen aus dem Meereswasser gefischt werden. Ernst Haeckel und Anton Dohrn sammelten im 19. Jahrhundert Plankton auf der Insel.
Zur „Königlichen Biologischen Anstalt“ wurde Helgoland 1892 durch das preußische Kultusministerium ernannt. Die Insel entwickelte sich in den Folgejahren zu einer international anerkannten Stätte meeresbiologischer Forschung. Im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört, wurde die Biologische Anstalt Helgoland 1959 neu eröffnet. Die BAH ist seit 1998 Teil des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar und Meeresforschung. Allein auf Helgoland forschen und arbeiten etwa 60 Mitarbeiter, im Sommer sind bisweilen mehr als 100 Wissenschaftler, je nach Projektlage, auf der Station. Die Forscher kommen aus allen Ländern der Welt.