Kreis Pinneberg. 2016 kam es in Schleswig-Holstein zu 3721 Fällen von Übergriffen in der Familie, eine Aktion soll jetzt sensibilisieren.

Die kleine Marie greift beherzt in die bunt bedruckte Papiertüte. Das knistert so schön. Kurz darauf fehlt ein gutes Stück vom Brötchen. Mutter Jeanette Schröder liest derweil, was auf dem Papier geschrieben steht. Dass Gewalt nicht in die Tüte komme. „Diese Aktion kannte ich noch nicht“, sagt sie. Und das erklärt sich schnell. „Ich komme aus Hessen, wir sind nur in Rellingen zu Besuch.“

Und so erlebt Jeanette Schröder an diesem Montag zufällig den Auftakt einer landesweiten Initiative, die es in Schleswig-Holstein seit vielen Jahren gibt. Die junge Mutter trifft vor der Filiale der Bäckerei Dwenger an der Hauptstraße gar auf eine Landesministerin. Die heißt Sabine Sütterlin-Waack, ist in Schleswig Holstein nicht nur für Justiz, sondern auch für Gleichstellung zuständig. Und gibt die Schirmherrin für die Aktion „Gewalt kommt nicht in die Tüte“, mit der Menschen für das Problem häuslicher Gewalt sensibilisiert und ermuntert werden sollen, nicht wegzuschauen.

2016 gab es in Schleswig-Holstein 3721 Fälle von häuslicher Gewalt

Dass das nötig ist, verdeutlichen Zahlen, die Sütterlin-Waack im Gepäck hat. 2016 seien im nördlichsten Bundesland 3721 Fälle von häuslicher Gewalt aktenkundig geworden. Sage und schreibe 550 Täter seien aus Wohnungen gewiesen worden, 1658 Frauen hätten Schutz in Frauenhäusern gesucht. „Die Wohnung wird oft zur Stätte des Leidens“, so die Ministerin. „Jede dritte Frau wird in ihrem Leben mindestens einmal Opfer von Gewalt.“ Für den Kreis Pinneberg regionalisierte Zahlen gebe es nicht.

Bereits zum 14. Mal macht die gemeinsame Aktion des Ministeriums für Justiz, Europa, Verbraucherschutz und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein, des Landesinnungsverbandes des Bäckerhandwerks Schleswig-Holstein und der Gleichstellungsbeauftragten und lokalen Bündnisse gegen häusliche Gewalt auf Übergriffe in der Familie aufmerksam. Mehr als 320.000 Brötchentüten mit dem Aufdruck „Gewalt kommt nicht in die Tüte“ werden in der Woche vor dem 25. November, dem internationalen Tag Nein zu Gewalt an Frauen, verteilt.

Drei Millionen Euro für Frauenhäuser im Land

16 Frauenhäuser im Land Schleswig-Holstein werden mit einem Sofortprogramm ausgebaut und gefördert. Das hat der Kieler Landtag fraktionsübergreifend und einstimmig beschlossen. Grund ist ein Sanierungsstau, zudem sind die Institutionen überlastet.

Zuweilen müssen von Gewalt betroffene Frauen in Vierbettzimmern schlafen. Für 2018/19 stehen und drei Millionen Euro zur Verfügung, um dringende Probleme zu lösen.

„Leider kommt es immer noch vor, dass Frauen von Frauenhäusern abgewiesen werden, weil nicht ausreichend Platz vorhanden ist“, so die Elmshornerin Beate Raudies, die für die SPD im Landtag sitzt.

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Die Brötchentütenaktion trage erheblich dazu bei, dass das Thema ins öffentliche Bewusstsein gelange, so Sütterlin-Waack. „Die Initiative fordert in unaufdringlicher Weise das soziale Umfeld auf, Gewalt nicht zu ignorieren, sondern Betroffenen den Weg zu Hilfe zu erleichtern.“ Die Unterstützung des sozialen Umfeldes sei entscheidend, ob eine Frau es schaffe, sich aus der Gewaltsituation zu lösen.

Im Kreis Pinneberg machen zehn Innungsbäckereien mit, sie verkaufen ihre Brötchen in den insgesamt 25.000 bedruckten Tüten, auf denen die bundesweit geltende Hilfe-Hotline abgedruckt ist. Und nicht nur betroffene Frauen können sich melden. „Wichtig ist, dass Nachbarn nicht wegschauen, wenn sie Gewalt beobachten“, so Sütterlin-Waack. Sie macht kein Geheimnis daraus, dass Zuwanderung die Situation verschärfen kann. „Es kommen viele Menschen aus Kulturkreisen mit anderem Frauenbild zu uns“, sagt die Ministerin. Auf diesem Feld sei Integration somit fraglos unerlässlich. Kreispräsident Burkhard E. Tiemann, der lange als einziger Mann im Gleichstellungsausschuss des Kreises saß („Manche bezeichnen mich als Frontfrau der CDU“), wies auf die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt hin, die es Frauenhäusern schwer mache, weil Klientinnen keine neue Wohnungen fänden. Sütterlin-Waack wies in diesem Zusammenhang auf ein Programm der Landesregierung hin. Bis 2022 sollen Jahr für Jahr 800.000 Euro investiert werden, um von Gewalt betroffene Frauen bei der Wohnungssuche zu unterstützen.

Sponsorenlauf brachte eine Spende von 2500 Euro

In Schleswig-Holstein können Betroffene, die Hilfe in Bezug auf häusliche und sexuelle Gewalt benötigen, sich an 23 vom Land geförderte Frauenberatungsstellen wenden. Die Hilfeangebote bei häuslicher Gewalt und weitere Informationen zum Thema sind auch in einer Broschüre zusammengestellt, die im Internet unter www.schleswig-holstein.de heruntergeladen werden kann. Die Broschüre steht dort in deutscher, türkischer, russischer, englischer, französischer und arabischer Sprache zur Verfügung.

Im Kreis Pinneberg gibt es drei Frauenhäuser und zwei Beratungsstellen, deren Mitarbeiter nach Übergriffen in der Familie beraten und helfen. Während eines Sponsorenlaufs ist es gelungen, 2500 Euro einzuspielen. Das Geld kommt den fünf Institutionen zugute.