Elmshorn . Harald Kirschninck hat die biografischen Daten von 1425 Juden seiner Heimatstadt erfasst. Drohungen waren dabei nicht selten.

Es gibt Dinge, die beeinflussen das ganze Leben. Bei Harald Kirschninck aus Elmshorn war das der Roman „Exodus“, den er als Zwölfjähriger las. Er schildert die dramatischen Ereignisse rund um die Gründung des Staates Israel. Obwohl keineswegs kindgerecht aufbereitet, faszinierte die Darstellung den Jungen sofort. „Der Stoff hat mich einfach gefangen“, beschreibt Kirschninck heute. Er wurde zum Archivar der jüdischen Geschichte seiner Heimatstadt.

Die Faszination, der ihn als Jungen einfing, schlug sich Jahre später nieder in der Wahl seines Studienfachs. Er spezialisierte sich auf Neuere Geschichte. Als Thema seiner Examensarbeit wollte er sich mit dem System der Konzentrationslager auseinandersetzen. Sein damaliger Professor schlug stattdessen vor, über die jüdische Geschichte Elmshorns zu forschen. Doch bald machte sich Ernüchterung breit: Viele, die Kirschninck befragte, stellten die Behauptung auf, es habe gar keine Juden in Elmshorn gegeben. Kirschninck konnte sich das nicht vorstellen. Er machte sich sogleich daran, diese Aussage zu überprüfen.

Er forschte in vielen Archiven nach, auch im Stadtarchiv, damals noch Teil des Museums. Doch die Unterlagen zu der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg waren lückenhaft. „Die Quellenlage war nicht so doll“, so der Historiker. Seine Anfragen nach Informationen wurden negativ beantwortet, anscheinend hatte niemand ein Interesse daran, Licht ins Dunkel der neueren Heimatgeschichte zu bringen.

Harald Kirschninck ließ nicht locker und wandte sich an die Redaktion einer Lokalzeitung, die ihm ihre alten Ausgaben vor 1945 zur Verfügung stellte. Dort suchte er nach Hinweisen und fand heraus, dass ein jüdischer Friedhof in Elmshorn existiert hatte. Schlecht denkbar ohne jüdische Bevölkerung. Glücklicherweise war das Gelände nicht eingeebnet worden, es existierten sogar noch Grabsteine. Außerdem überließ ihm ein Bekannter ein wichtiges Dokument: eine Liste mit Namen von früheren jüdischen Einwohnern.

War sein Engagement in dieser Frage bisher eher unterschwellig boykottiert worden, so änderte sich das mit der Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse in einer Lokalzeitung. Zum ersten Mal erhielt er Drohanrufe. „Das war so damals die Zeit“, sinniert Kirschninck. Das krude Gedankengut der Nationalsozialisten wirkte nach, Judenhass war zwar gesellschaftlich geächtet, aber nicht ausgerottet.

Kirschninck ließ sich jedoch nicht beeindrucken und setzte sein Engagement fort. Einem Anrufer sagte er auf den Kopf zu, dass er wusste, wie er hieß, denn er hatte ihn an der Stimme erkannt. Zumindest diese Anrufe endeten abrupt, die anderen gaben auch irgendwann auf.

Harald Kirschninck leistet seine wertvolle Arbeit nach wie vor. Der 61 Jahre alte Familienvater hat zwar beruflich einen anderen Weg eingeschlagen, aber seine Leidenschaft füllt einen Großteil seiner freien Zeit aus. Im Grunde ist es detektivische Kleinarbeit, die er leistet. Bis heute hat er für 1425 Juden, die in Elmshorn ansässig waren, die biografischen Daten niedergelegt.

Die Geschichte der Juden in Elmshorn reicht lange zurück. „Elmshorn hatte ab 1650 die Besonderheit, dass der Reichsgraf Christian von Rantzau direkt Wien unterstellt war und somit das Recht bekam, Juden aufzunehmen“, erzählt Kirschninck. 1685 wurde dann die erste jüdische Gemeinschaft unter dem Namen Israelitische Gemeinde gegründet. 1838 hatte Elmshorn 2500 Einwohner, davon waren 204 Juden, ein Anteil von etwas mehr als acht Prozent. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte sich ihre Zahl bis auf vier dezimiert. Nach dem Krieg waren es nur noch zwei, die in sogenannten Mischehen mit Nichtjuden überlebten. Die jüdische Gemeinde existierte da schon lange nicht mehr.

Harald Kirschninck pflegt bis heute Kontakte zu Familien von KZ-Opfern und Vertriebenen. Er ist immer wieder berührt, wie herzlich und offen sich der Kontakt gestaltet. Von den überlebenden Juden besuchten nur wenige Elmshorn später noch einmal. Es ist jedes Mal ein großes Glück für den Forscher, einen der Überlebenden persönlich zu treffen oder beim Besuch begleiten zu können.

In diesem Jahr war es der 93-jährige Harry Stern, von dessen acht Familienmitgliedern aus Elmshorn drei von den Nazis getötet wurden. Trotzdem kehrte er für einen Tag zurück, denn er wollte noch einmal die Grabsteine seiner Vorfahren sehen. Dazu reiste er aus den USA an und antwortete Kirschninck auf viele seiner Fragen. Jeder jüdische Zeitzeuge, mit dem Kirschninck spricht, trägt mit seinen persönlichen Informationen einen Teil dazu bei, dass die Juden von Elmshorn nicht vergessen werden.

Harald Kirschninck hat noch viel vor. Sein neues Werk betrifft den Jüdischen Friedhof. Es soll die Biografien der auf den Grabsteinen vermerkten Juden enthalten, später sollen dann noch alle Schicksale der Elmshorner Juden, die deportiert wurden oder auswandern mussten, hinzukommen. Ein Mammutprojekt, dessen Protagonisten immer weniger werden. Es gibt viel Arbeit und die Zeit drängt.