Wedel . Klage wegen Diskriminierung: Gericht gibt Angehörigen des behinderten Dirk Biller im Streit mit Pinneberger Verein Recht

Durch die lichtdurchfluteten Räume der Wohngruppe schallt laute Musik. „Atemlos“ von Schlagerfee Helene Fischer dröhnt aus den Boxen in Dauerschleife. Es wird getanzt, gelacht. Die Stimmung im Haus am Tinsdaler Weg, das sich mehrere Menschen mit Behinderung teilen, ist ausgesprochen gut. Gelöst wirken auch die Angehörigen von Bewohner Dirk Biller.

Gerda Giebel und Günter Biller haben ihr Lachen wiedergefunden. Das sah vor knapp einem Jahr ganz anders aus. Damals zogen sie mithilfe des ehemaligen Richters Lothar Selke, der den gemeinnützigen Verein Verbraucherschutz für behinderte Menschen mitbegründete, vor Gericht. Ausgerechnet die Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung im Kreis Pinneberg mussten sie auf Unterlassung verklagen; eine Einrichtung zu der auch die Wohngruppe von Dirk Biller gehört. Anlass für den Streit: Erziehungsmaßnahmen, die aus ihrer Sicht Behinderte deutlich diskriminierten.

Das Pinneberger Amtsgericht hat ihnen Recht gegeben. Hausarrest, Umgangsverbote, Wegnahme des Telefons, Taschengeldentzug: All das sah das Gericht als Ungleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen an und untersagte der Lebenshilfe solche Erziehungsmaßnahmen. Der Anwalt der Lebenshilfe hat inzwischen auch schriftlich mitgeteilt, dass die Institution die vom Gericht verhängten Unterlassungen anerkennt.

„Es hat sich viel verändert, und es wird immer positiver“, sagt Gerda Giebel, die für Dirk nach dem Tod seiner Mutter die Betreuung übernahm. Zweimal die Woche kommt sie den geistig behinderten Mann in der Wedeler Wohngruppe der Lebenshilfe besuchen. Täglich telefonieren sie. Sorgen, dass es ihm nicht gut gehen könnte, macht sie sich nun nicht mehr. Laut Giebel wären personelle Konsequenzen in der Wohngruppe gezogen worden. „Ich weiß, dass es rundläuft. Ich bin viel entspannter“, berichtet sie. Vor mehr als einem Jahr machte sie sich dagegen große Sorgen. Es gab Probleme in der Wohngruppe.

Dirk Biller, der mit einem Down-Syndrom auf die Welt kam, eckte an. Ging eigene Wege. Unter anderem füllte er nachts die für den Morgen vorbereitete Kaffeemaschine mit mehr Pulver auf. „Ich mag gern starken Kaffee, sonst schlaf ich bei der Arbeit ein“, erklärt der 46-Jährige die Aktion. Zudem versteckte er mehrmals Badezimmerschlüssel, wusch „unerlaubt“ Wäsche, goss das Reinigungsmittel aus, warf Taschentücher aus dem Fenster.

All seine „Vergehen“ wurden minutiös in einem Protokoll festgehalten und den Angehörigen bei einem Gespräch vorgehalten, wie sie berichten. Es ging darum, dass Biller die Gruppe verlassen sollte. Zu aggressiv, zu störend war sein Verhalten. Doch die Familie hielt dagegen. Das Protokoll war auch der Anlass für die Klage. Es enthüllte nebenbei die erstaunlichen Erziehungsmaßnahmen. Denn nicht nur die „Vergehen“ wurden dokumentiert, sondern auch die Reaktionen beziehungsweise die Bestrafungen. Biller wurde wochenlang das Telefon weggenommen, er erhielt Stubbenarrest.

Dabei steht die Lebenshilfe doch für die Gleichbehandlung von nichtbehinderten und behinderten Menschen, für den rücksichtsvollen und respektvollen Umgang mit den Bewohnern. Dazu bekennt sich die Vereinigung in ihren Leitlinien und Betreuungsverträgen. Im Qualitätshandbuch der Lebenshilfe im Kreis Pinneberg von 2005 steht zur Rolle der Mitarbeiter, dass ihre Aufgabe nicht mehr aus Bevormunden, Kontrollieren, Vorschreiben oder Befehlen bestünde, sondern im Unterstützen, Ermutigen und gemeinsamen Handeln. Das Merkwürdige: Während des Prozesses stellte sich die Lebenshilfe Pinneberg auf den Standpunkt, dass die Erziehungsmaßnahmen angemessen wären. Erst nach einer deutlichen vorläufigen Stellungnahme des Gerichts lenkte der Verein ein. Das geht aus den vorliegenden Akten hervor. Denn zum konkreten Fall wollte sich Geschäftsführer Michael Behrens mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte Billers bislang nicht äußern. Auch für eine allgemeine Stellungnahme war er am Freitag nicht zu erreichen.

„Man fragt sich: Was ist der größere Skandal. Das so etwas überhaupt in einer solchen Einrichtung stattgefunden hat oder dass es fast ein Jahr gedauert hat, bis die Lebenshilfe sich dazu bekennt, dies zu unterlassen?“, sagt Jurist Selke. Es sei eine Schande, dass ein behinderter Mensch erst durch einen langwierigen Prozess zu seinem Recht kommt. Von einer Behinderteneinrichtung sei eigentlich nicht zu erwarten, dass sie einen behinderten Menschen diskriminiere. Für Dirk Biller ist die Welt auf jeden Fall wieder in Ordnung: „Jetzt ist alles gut. Der Kaffee ist stärker.“