Zu alt und zu teuer: Die Lebenshilfe und die Kreisverwaltung planen, drei Wohngruppen in Wedel und Elmshorn zu schließen. Die Menschen mit Behinderung sollen in einen Neubau ziehen. Das wollen sie aber gar nicht.

Wedel. Annette Klocke ist 43 Jahre alt. Mehr als die Hälfte ihres Lebens war die Wohngruppe der Lebenshilfe am Tinsdaler Weg in Wedel ihr Zuhause. Hier leben ihre Freunde, ihre Familie. Hier geht sie zum Klavierunterricht. Hier fühlt sie sich wohl. Jetzt soll sie raus. So wie alle neun Bewohner mit Behinderung, die in dem roten Klinkerhaus aus den 90er-Jahren wohnen. Am Donnerstagabend informierte die Lebenshilfe im Kreis Pinneberg die Betreuten und ihre Angehörigen erstmals über die Pläne. Aus Kostengründen wollen der Kreis Pinneberg als Geldgeber und die Lebenshilfe als Träger drei Wohngruppen auflösen und in einem großen Neubau, dessen Standort nicht feststeht, unterbringen. Die laut Lebenshilfe von der Kreisverwaltung dafür gesetzte Frist läuft Ende 2015 aus.

Von dem Zwangsumzug sind mehr als 25 Menschen mit Behinderung betroffen. Sie leben am Tinsdaler Weg, an der Elmshorner Asgarstraße und in der Wedeler Immobilie an der Thomas-Mann-Straße. Letztere wurde bei ihrer Einweihung 1987 als erste Wohngruppe ihrer Art im Kreis Pinneberg mit Vorbildcharakter gefeiert. Jetzt wird die Uhr zurückgedreht. Statt auf kleine Gruppen über mehrere Standorte verteilt, sollen die geistig behinderten Menschen in großen Einrichtungen gemeinsam wohnen.

„Die Entscheidung ist unter wirtschaftlichen und personellen Gesichtspunkten getroffen worden. Wir versprechen uns Synergieeffekte durch die Zusammenführung“, so Marc Trampe. Der Sprecher der Kreisverwaltung verweist darauf, dass das die gemeinsame Haltung seiner Behörde und der Lebenshilfe sei. Michael Behrens als Geschäftsführer der Lebenshilfe im Kreis Pinneberg lehnte es am Freitag auf Abendblatt-Nachfrage ab, sich zu der Sache zu äußern. Er verwies auf eine Infoveranstaltung am 27. März für die Betroffenen aus Elmshorn. Bis dahin gebe es keinen Kommentar.

Von den Eltern umso mehr. Die bislang in Wedel informierten Betroffenen sind entsetzt über die Pläne. Sie fürchten, dass ihre Kinder nicht nur ihr Zuhause verlieren, sondern auch aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden. Denn angesichts der derzeitigen Grundstückspreise in Wedel und Umgebung halten sie es für unmöglich, hier einen geeigneten Standort für den Neubau zu finden. „Das ist ein Schock“, sagt Klaus Klocke. Er ist der Vater der geistig behinderten Annette und war als ihr Vormund bei der Veranstaltung dabei. Er kann noch gar nicht fassen, dass seine Tochter, die seit der Gründung der Wohngruppe vor knapp 25 Jahren am Tinsdaler Weg lebt, ausziehen muss. Als er und seine Frau sich mit Annette damals für den Schritt hinaus ins selbstständige Leben entschieden, hatte man ihnen versprochen, dass sie hier alt werden könne. Das zentral gelegene Haus ist nur zehn Gehminuten von der Wedeler Bahnhofstraße und somit vom Ortskern entfernt. Bis zu den Eltern, die in Wedel leben, hat es Annette nicht weit. „Sie kann eben mal vorbeikommen, wenn sie Lust hat. Wie soll das jetzt werden? Wir Eltern werden immer älter. Noch können wir Auto fahren, aber was, wenn nicht mehr? Wie sollen wir uns besuchen?“, fragt der 85-Jährige.

Mit seinen Sorgen steht er nicht allein da. Das Ehepaar Schippmann ist erschüttert. Ihre behinderte Tochter Ilona lebt seit 25 Jahren in der Wohngruppe in Wedel. Wie viele der Betroffenen hat sie hier ihr soziales Umfeld. „Wedel ist ihre Heimat. Man möchte Amok laufen. Es macht uns krank“, sagt Irene Schippmann. Anke Milchert berichtet, dass ihre Nicole, die an der Thomas-Mann-Straße wohnt, große Angst hat, Wedel verlassen zu müssen.

Unklar ist auch die Zukunft des Hirtenhauses an der Spitzerdorferstraße. In dem ältesten Gebäude der Stadt, das unter Denkmalschutz steht und im Besitz des Wedeler Ortsvereins der Lebenshilfe ist, verbringen die Bewohner aus den Wedeler Wohngruppen ihre Freizeit. Ziehen sie weg, klafft eine Finanzierungslücke. Laut Vereinschef Dieter Bultmann würde die dort untergebrachte Krabbelgruppe zur Finanzierung nicht ausreichen.

Was ist der Anlass für die plötzlichen Pläne? Warum endet die Frist gerade 2015 und somit laut Abendblatt-Informationen gleichzeitig mit der Bindung der Förderung durch die Aktion Mensch für die Immobilien in Wedel? „Der Impuls kam von der Lebenshilfe“, sagt Trampe. Mitte 2013 sei die Lebenshilfe mit der Idee der Zusammenlegung auf den Kreis zugekommen, weil die Wohngruppen nicht mehr den gesetzlichen Anforderungen entsprechen.

Die Aussicht auf modernere Wohnungen tröstet die Eltern nicht. „Was nützt ein tolleres Bad oder eine größere Wohnung, wenn die Kinder traurig und einsam in der Wohnung hocken“, fragt Günter Biller, dessen Sohn von den Plänen betroffen ist. Er und weitere Eltern und Betreuer wollen sich gegen den Zwangsumzug der behinderten Menschen wehren. Sieben Angehörige und Betreuer kämpfen bereits mit Lothar Selke vom Verein Verbraucherschutz für behinderte Menschen gegen den drastischen Schritt. „Wir werden alle rechtlichen Mittel gegen den Kreis und die Lebenshilfe ausschöpfen“, kündigt Jurist Selke an. Die Betroffenen hoffen auch auf Hilfe aus Wedel. Sie wollen Unterschriften sammeln und sich an den Bürgermeister wenden.