Familie Giebel/Biller zieht für ihren behinderten Sohn vor Gericht. Vorwurf an die Lebenshilfe Pinneberg: Mitarbeiterinnen hätten ihn schikaniert. Es geht um Einbehalten von Geld, Telefonverbote, Hausarrest.
Wedel/Pinneberg. Für die einen ist es eine sinnvolle pädagogische Sanktion, um den reibungslosen Betrieb aufrechtzuerhalten. Für die anderen ist es reine Schikane und ein Verstoß gegen die in der UN-Charta festgelegten Rechte von Menschen mit Behinderung. Fest steht, dass der Fall von Dirk Biller heute das Pinneberger Amtsgericht beschäftigen wird. Dessen Familie zieht für ihren 45 Jahre alten geistig behinderten Angehörigen vor Gericht. Ihr Vorwurf an die Lebenshilfe Pinneberg, in deren Wedeler Wohngruppe Dirk Biller lebt: Mitarbeiterinnen hätten ihn mit unzulässigen Erziehungsmethoden schikaniert. Sie klagen auf Unterlassung und fordern empfindliche Strafen bei Zuwiderhandlung.
An ihrer Seite haben sie Lothar Selke. Der ehemalige Richter ist selbst Vater eines behinderten Kindes und engagiert sich seit seiner Pensionierung ehrenamtlich im Hamburger Verein Verbraucherschutz für behinderte Menschen, der sich für die Rechte der Benachteiligten einsetzt. Er verklagt nun ausgerechnet mit der Lebenshilfe einen gemeinnützigen Verein, der dasselbe für sich beansprucht. Behinderten helfen und sich für ihre Interessen stark machen: Das führt die Einrichtung, zu der in Elmshorn, Pinneberg und Wedel zahlreiche Wohngruppen, Kitas sowie eine Werkstatt in Thesdorf gehören, als Ziele an. Über ihre Wohngruppen heißt es in Prospekten und auf der Internetseite, dass sie den Bewohnern Schutz und Geborgenheit bieten. „Bei uns leben die Bewohner so selbstständig wie möglich und mit so viel Unterstützung wie nötig. Unsere Mitarbeiter sind qualifiziert und motiviert. Wir achten auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung und unterstützen sie entsprechend.“
Genau das bezweifelt die Familie Biller. „Das Traurige ist, dass die Lebenshilfe nicht mehr ist, was sie zu sein vorgibt. Es geht nicht mehr vorrangig um die Menschen mit Behinderung“, kritisiert Günter Biller. Er selbst wirkte einst vor 25 Jahren aktiv in der Lebenshilfe Wedel mit, baute unter anderem die Wohngruppe in Wedel auf, in der sein Sohn seit zwei Jahrzehnten lebt. Und das sehr gern. Bis der Ärger begann. Laut den Billers gingen die Probleme mit der Wohngruppenleitung vor knapp zwei Jahren los. Telefonverbote, Stubenarrest, Umgangsverbote mit anderen Bewohnern wurden gegen Dirk Biller verhängt. Manchmal behielten die Mitarbeiter zur Strafe sein Taschengeld ein. Das geht auch aus den Zwischenberichten der Lebenshilfe hervor. Darin protokollierten die Mitarbeiter die Biller-Vorfälle und die Sanktionen. Ein Beispiel: Weil er eigenmächtig die Waschmaschine anstellte, obwohl er bereits drei Tage zuvor verwarnt wurde, wurde ein Telefonverbot für zwei Tage verhängt. Weil Taschentücher aus dem Fenster schmiss, durfte er die Wohnung nicht verlassen. Sein Taschengeld wurde einbehalten, nachdem er den Badezimmerschlüssel erneut versteckt hatte. Ärger gab es auch, weil er nachts heimlich mehr Kaffeepulver in die Maschine füllte.
Dirk Biller kam mit einem Down-Syndrom auf die Welt. Trisomie 21, wie die Genommutation auch heißt, ist meist nicht erblich bedingt. Seine Behinderung schränkt ihn ein, aber er weiß, was er will. Fragt man ihn zum Beispiel, warum er denn den Kaffee nachts aufgefüllt hat, erklärt er: „Ich mag gern starken Kaffee. Ich schlaf sonst bei der Arbeit ein.“ Dirk Biller ist für die Werkstatt der Lebenshilfe tätig. Seine Tante und gesetzliche Betreuerin lächelt angesichts seiner Begründung. „Er ist clever“, sagt Gerda Gabriel. Sie weiß, dass er nicht immer einfach ist und seine eigenen Wege geht. Die ständigen Bestrafungen kann sie aber nicht nachvollziehen, weil es andere Möglichkeiten gebe, wie das Wegstellen des Kaffees oder das Anbinden des Badezimmerschlüssels. Günter Biller schüttelt den Kopf: „Das ist so lachhaft.“
Aus Sicht von Anwalt Selke ist es noch viel mehr, es ist aus seiner Sicht unzulässig und verstößt auch gegen das Selbstbestimmungsgesetz in Schleswig-Holstein. „Die verhängten Sanktionen stellen schwere diskriminierende Verstöße dar. Es erinnert an längst vergangene Anstaltszeiten.“ Dass die Lebenshilfe sich nicht von den Erziehungsmaßnahmen in diesem Fall distanzierte, entsetzt Selke. Er hat am Mittwoch die Heimaufsicht des Kreises Pinneberg eingeschaltet.
Lebenshilfe-Geschäftsführer Michel Behrens wollte sich zum Fall aufgrund der Persönlichkeitsrechte und des laufenden Verfahrens nicht äußern. Dem Abendblatt aber liegt die Stellungnahme der beauftragten Kanzlei für die Verhandlung in Pinneberg vor. Darin wird erläutert, dass die Sanktionen eine Reaktion auf aggressives und störendes Verhalten Billers gewesen seien. Sie seien zum Selbstschutz, Schutz der Mitbewohner und zur Aufrechterhaltung des Zusammenlebens in der Wohngruppe nötig gewesen. Dem Vorwurf der Familie, die Lebenshilfe stehe nicht mehr zu ihren Werten, entgegnet Behrens: „Wir müssen wirtschaftlicher denken als früher und mehr tun als vielleicht andere Einrichtungen, um das Überleben zu sichern. Deshalb vergessen wir aber nicht, wofür wir stehen.“